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Buchtipp: „Kinder der Straße“ über Straßenkinder in Dar es Salaam, Tansania

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Der tansanische Rapper Professor Jay beschreibt in Zali la Mentali („goldene Chance“) wie ein armer Straßenjunge auf der Straße überlebt, eine reiche, schöne Frau trifft und schließlich ein Leben im Wohlstand führt.

Kinder der Straße – Straßenkinder?

Mir ist vor Kurzen das lesenswerte Buch „Kinder der Straße. Kindheit, Kinderrechte und Kinderarbeit in Tansania“von Helmut Spitzer in die Hände gefallen. Das Buch ist 2006 erschienen, aber immer noch höchst aktuell.

Basierend auf einer Forschung in Dar es Salaam setzt sich der Autor mit der Frage auseinander, was eigentlich „Straßenkinder“ sind, warum sie auf der Straße leben und welche Maßnahmen zu ihrer Unterstützung Sinn machen. Dabei ist ihm wichtig, eine differenzierte Betrachtung der Kategorie „Straßenkind“ zu erarbeiten und die Thematik aus der Kinderrechtsperspektive zu betrachten.

Zum Konzept „Kindheit“

Wir erleben derzeit eine „Globalisierung von Kindheit“ (Spitzer 2006: 74), d.h. die westliche Vorstellung von Kindheit setzt sich weltweit immer mehr durch. Kinder gelten zunehmend als individuelle Akteure, die zu einer Kleinfamilie gehören und das Recht auf eine unbeschwerte, möglichst lang andauernde Kindheit haben.

Anders, als in auf Individuen fokussierte westlichen Gesellschaften, leben tansanische Kinder meist viel enger eingebunden in ein Kollektiv, bestehend aus Großfamilie und Gemeinde. Sozialer Wandel und weit verbreitete Armut führen jedoch vielerorts dazu, dass sich die traditionellen Strukturen ändern und teilweise auflösen.

Von westlicher Perspektive aus wird „Kindheit in den armen Ländern des Südens (…) oft als defizitär betrachtet (Spitzer 2006: 74). Als dessen krasseste Ausprägung gelten oft die „Straßenkinder“.

Was sind „Straßenkinder“?

Die öffentliche Wahrnehmung von „Straßenkindern“ ist negativ, oft werden sie als Kriminelle, Drogensüchtige und Nichtsnutze beschimpft. In Tansania werden sie u.a. als chokora bezeichnet, ein Begriff assoziiert mit „Abfall oder Müll“ (ibid.: 128).

Eine lange Zeit gängige Definition von „Straßenkindern“ unterschied zwischen  Kindern „auf der Straße“, die dort ihren überwiegenden Lebensmittelpunkt haben, (etwa arbeiten, nachts aber zu Hause schlafen) und „Kindern der Straße“. Diese haben keine Verbindungen zu ihrer Herkunftsfamilie und leben ausschließlich auf der Straße.

Allmählich ändert sich die Wahrnehmung von Straßenkindern. Der Zustand „Straßenkind“ wird inzwischen nicht mehr statisch betrachtet, sondern als eine oftmals zeitlich begrenzte Periode im Leben eines/r Kindes oder Jugendlichen wahrgenommen. Außerdem werden „Straßenkinder“ zunehmend weniger als passive Opfer sondern vielmehr als kreative Akteure wahrgenommen, die Einfluss auf alle sie betreffenden Maßnahmen haben müssen – der Kinderrechtsansatz spielt hierbei eine wichtige Rolle.

Viele „Straßenkinder“ Dar es Salaams kommen aus ländlichen Gebieten oder anderen Städten Tansanias. Die meisten nennen Armut oder Gewalterfahrungen als Gründe für ihre Flucht. Viele Kinder konnten nie oder nur kurz zur Schule gehen, oft hatten ihre Familien zu wenig Geld, um allen Kinder zu ernähren. Etwa die Hälfte der Befragten haben ein oder beide Elternteile durch AIDS oder andere Todesursachen verloren.

Die unterschiedlichen Erfahrungen von Mädchen und Jungen

Bei einer Untersuchung über „Straßenkinder“, so Spitzer, muss zwischen Jungen und Mädchen unterschieden werden, da beide unterschiedlich sozialisiert werden, was sich auch in ihren jeweiligen Rollen auf der Straße bemerkbar macht.

Mädchen und Jungen gemeinsam ist die Ausgrenzung und Gewalt, die sie seitens der Polizei erfahren, fast alle berichten von Übergriffen, Schlägen und Willkür durch Polizeibeamte und andere Erwachsene.

Tansanische Mädchen werden allerdings wesentlich strikter sozialisiert als Jungen und haben von Kindheit an eine noch schwächere Position in der gesellschaftlichen Hierarchie. Für sie gelten auch strengere moralische Maßstäbe, daher ist es für sie wesentlich schwerer, von der Straße wieder wegzukommen.

Mädchen verlassen ihre Familie häufig nachdem sie sexuelle Gewalt erfahren haben. Auf der Straße landen sie oft in der Prostitution, was aufgrund der damit verbundenen Stigmatisierung zu weiterer Ausgrenzung führt und eine Reintegration in ihre Herkunftsfamilien oft unmöglich macht. Sie sind auch dadurch in einer schwächeren Position, weil sie sich meist nicht vor ungewollten Schwangerschaften und Infektionen mit Geschlechtskrankheiten und HIV schützen können.

Jungen berichten auch von sexueller und körperlicher Gewalt, sind aber nicht im gleichen Maße dem Stigma des „Freiwilds“ ausgesetzt wie Mädchen.

Sowohl Mädchen und Jungen schließen sich meist mit anderen zusammen. Jungen organisieren sich oft in Gruppen, in denen jedem Gruppenmitglied eine Rolle zugeteilt wird – jüngere betteln, ältere verrichten Hilfsarbeiten – und am Ende des Tages werden Einnahmen und Essen geteilt. Mädchen, die als Prostituierte arbeiten, teilen sich oft zu mehreren ein (spärlich eingerichtetes) Zimmer in dem sie leben und arbeiten.

Was tun? Hilfe für Straßenkinder

Was sollte nun getan werden, um „Straßenkinder“ zu unterstützen? Der gängige Ansatz ist, sie zu „rehabilitieren“ (ibid. 163), d.h. aus dem anormalen Zustand „auf der Straße“ wieder einen normalen zu machen. Laut Spitzer birgt dies aber die Gefahr, die Erfahrungen und Fertigkeiten der Kinder abzuwerten, die ihnen das Überleben auf der Straße ermöglichen und sie als geschickte und kreative Akteure auszeichnen.

Das tansanische Staat tut fast nichts zur Unterstützung der Kinder. Anstatt die Ursachen für ihre Existenz zu beseitigen (Armut, fehlende Infrastruktur, keine Hilfsangebote) werden sie stattdessen als „Problem“ gesehen, dass aus den Straßen entfernt werden muss und gelten als „Sündenböcke für dysfunktionale soziale Entwicklungen“ (ibid 2006: 208).

Stattdessen gibt es zahllose Hilfsprojekte, von denen viele Kinder aufnehmen, ihnen Schul- und Ausbildung ermöglichen und sie in ihre Familien zu reintegrieren. Oftmals scheitern diese Projekte. Reintegration in die Herkunftsfamilien ist oft unmöglich, da die Verhältnisse bereits zu zerrüttet sind und die Kinder schon zu lange fort waren.

Vielen Kindern fällt es zudem schwer, sich nach längerer Zeit des sehr autonomen Lebens „auf der Straße“ in den formalen Schulalltag zu integrieren, weswegen sie oft erneut die Schule abbrechen. Es fehlt hier an ausgebildeten Lehrern und an Bildungsangeboten, die Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auf der Straße erreichen.

Der mama mkubwa-Ansatz

Sinnvoller als reaktiv zu handeln, d.h. Kinder von der Straße wegzuholen, ist es daher, so der Autor, präventiv zu handeln, damit Kinder gar nicht erst aus ihren Familien weglaufen.

Der vorgestellte Präventionsansatz der mama mkubwa (Swhahili für Tante, ältere Schwester der Mutter), der im Stadtteil Kigamboni von der NGO TUAMOYO durchgeführt wird, sieht dagegen vor, gefährdete Familien zu identifizieren und zu intervenieren, bevor die Kinder auf der Straße landen.

Die mama wakubwa sind selbst Mütter, durchlaufen eine kurze Schulung und kümmern sich mit Unterstützung durch Sozialarbeiter_innen um bis zu 10 Kinder aus der Nachbarschaft. Gemeinsam suchen sie nach Lösungen für bestehende Probleme und laut Spitzer hat sich dieser Ansatz bisher bewährt.

Natürlich ist das nicht ausreichend, und es bedarf weiterhin Maßnahmen, die jene Kinder erreichen, die auf der Straße leben, dort Gewalt erleben und keinen Zugang zu Bildung oder Gesundheitsdienstleistungen haben.

Solange Staat und Gesellschaft die Kinder aber als Problem betrachten und nicht das eigentliche Problem benennen, nämlich Armut, mangelhafte Bildungschancen und ein schlechtes Gesundheitssystem, solange wird sich wohl an der Situation der Mädchen und Jungen auf der Straße nichts ändern. So lange werden sie die Sündenböcke für Versäumnisse der Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft sein.

Mehr zum Thema

Themenseite „Straßenkinder“ von terre des hommes

Website zum Film „Choroka – Überleben auf der Strasse“

Website der Autorin Nasrin Siege (die u.a. das Kinderbuch „Juma – Ein Straßenkind aus Tansania“ sowie weitere empfehlenswerte Kinderbücher geschrieben hat)

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