Ethnologisches
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Warum der Begriff „Stamm“ problematisch ist

Bayern in (Stammes?-)Tracht (Quelle: flickr, user Anna)

Bayern in (Stammes?-)Tracht (Quelle: flickr, user Anna)

Immer wieder lese ich in Texten über Gesellschaften vorwiegend aus afrikanischen Ländern oder, wie hier, dem Amazonasraum die Bezeichung „Stamm“. Immer wieder seufze ich dabei innerlich.

Warum seufze ich dabei? Sprache ist nie neutral und muss immer im historischen Kontext gesehen werden. Sprache verändert sich mit der Zeit und transportiert dadurch auch überkommene Stereotype und Bilder.

In jüngerer Zeit gab es zum Beispiel kontroverse Auseinandersetzungen um rassistische Ausdrücke in Kinderbüchern oder die Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache. Auch die gegenwärtige Diskussion über Flüchtlinge, „Ausländer“ und „Asylanten“ ist ein Beispiel dafür. In einem von mir geleiteten Seminar zu diesem Thema fand ich es zum Beispiel kürzlich schwierig, damit umzugehen, dass diese Begriffe ganz selbstverständlich benutzt wurden, obwohl bei den beiden letzteren sehr negative Konnotationen mitschwingen.

Stellt man die Verwendung bestimmter gebräuchlicher Ausdrücke mit dem Hinweis, sie seien problematisch, in Frage, wird man häufig schnell abgebügelt, etwa mit Argumenten wie „das ist doch nicht so gemeint“ (DER Klassiker) oder eben „das ist doch ein neutraler Begriff“/ „Ich verwende diesen Begriff aber neutral“.

Sprache ist nicht neutral

Sprache aber ist nie neutral. Sprache ist ein Teil unseres sozialen Miteinanders. Durch Sprache konstruieren wir unsere Umwelt und unsere sozialen Beziehungen. Neben ihrer rein lexikalischen Bedeutung haben Worte immer auch weitere, historisch gewachsene Bedeutungen. Entsprechend können sie bei unterschiedlichen AddressatInnen ganz verschiedene Assoziationen und Emotionen wecken.

Bei der Beschreibung „fremder“ Kulturen, ist ein sensibler Umgang mit Sprache sehr wichtig. Das betrifft übrigens sowohl Menschen, die aus anderen Ländern „zu uns“ kommen wie auch Menschen, die in anderen Ländern leben.

Warum ist das Wort „Stamm“ problematisch?

Diese Überschrift hat mich so lange beschäftigt, dass ich nun diesen Beitrag schreibe. In der Ethnologie bezeichnet Stamm eine Gruppe von Menschen, die durch Verwandtschaftsbeziehungen miteinander verbunden sind und einen gemeinsamen geographischen Raum bewohnen.

Der Begriff Stamm hat eine enge Beziehung zur Kolonialzeit, was einer der Hauptgründe für seine heutige kritische Betrachtung ist. Gesellschaftliche Gruppierungen in afrikanischen Kolonien wurden von den Kolonialverwaltungen in „Stämme“ eingeteilt, weil es die Verwaltung vereinfachte. Vielfach wurden so neue Gruppenidentitäten und neue Führungspersonen („Häuptlinge“) erst geschaffen.

Aus dieser Zeit stammt auch die Assoziation des Begriffes „Stamm“ mit einer vormodernen, „primitiven“ Lebensweise, die im Gegensatz zu „unserer“ modernen Lebensweise im staatlich organisierten Gemeinwesen steht. Der Begriff „Stamm“ hat daher im Deutschen auch immer eine rassistische und abwertende Bedeutung.

Er hat auch eine exotisierende Bedeutung. Menschen in Stammesgesellschaften sind „anders“, haben „Medizinmänner“, sind abergläubisch (Hexerei!) und führen ständig Kriege (Hutu vs. Tutsi). Was alles natürlich nicht stimmt, bzw. ein der einschlägigen Berichterstattung entweder aus den jeweiligen Kontexten gerissen oder stark vereinfacht wird.

Die Wikipedia fasst die Kritik des Begriffes gut zusammen und Pambazuka versammelt einige gute Diskussionsbeiträge inkl. einer längeren Erklärung, warum der Begriff tribe auch im Englischen Rückständigkeit suggeriert und außerdem zur Beschreibung einer Vielzahl vollkommen unterschiedlicher Gruppen nicht taugt.

Welche Alternativen gibt es?

Ein gebräuchlicher Begriff zur Beschreibung von Gruppen, die gemeinsame Merkmale wie Sprache, Herkunft oder Werte haben, ist zurzeit „Ethnie“. Im Gegensatz zu „Stamm“ schwingt dabei nicht die Assoziation der Rückständigkeit mit.

Allerdings besteht auch hier die Gefahr, dass eine Ethnie wie ein „Stamm“ als fest abgrenzbare Gruppe von Menschen verstanden wird. So funktioniert aber letztlich keine Gruppe in menschlichen Gesellschaften, nirgendwo auf der Welt.

Das ethnologische Verständnis von Ethnie meint eine Gruppe, die sich selbst als solche bezeichnet. Es beinhaltet außerdem die Tatsache, dass eine Ethnie kein fest umgrenzter Personenkreis ist, sondern dass die Gruppenzugehörigkeit zwar auf gemeinsamen Merkmalen fußt, jedoch auch flexibel ist:

Nicht alle Mitglieder teilen alle Merkmale.

Nicht alle Mitglieder sprechen immer die gemeinsame Sprache, halten alle Gebräuche ein oder identifizieren sich selbst als „Mitglied der Gruppe XY“.

Seit den 1980er-Jahren ist außerdem der Begriff „indigene Völker“ gebräuchlich, oft zur Bezeichnung von Gesellschaften, die in lateinamerikanischen Ländern leben gebraucht.

Exkurs: Gibt es „Stammeskriege“?

Diese Frage verdient eigentlich einen eigenen Artikel. Immer wieder lese ich über „Stammeskriege in Afrika“, auch in den führenden deutschen Zeitungen. Der Suchmaschinen-Schnelltest liefert 1.500 Seiten mit diesem Begriff. Schlecht informierte JournalistInnen reduzieren hier regelmäßig gewaltsame Konflikte auf eine Auseinandersetzung zwischen „Stämmen“ – ein fataler Mythos.

Dieses Bild des „Stammeskrieges“ ist schlicht und einfach falsch. Es handelt sich bei den üblicherweise so bezeichneten Konflikten um politische Auseinandersetzungen, um Konflikte um Ressourcen und Macht, bei denen oft entlang ethnischer Grenzen mobilisiert wird. In der Realität sind solche Grenzen übrigens sehr durchlässig. Hierzu ein Kommentar der Ethnologin Ingrid Thurner zum Krieg in Südsudan.

Ein vielzitiertes Beispiel ist der Völkermord an den ruandischen Tutsi 1995, der bis heute in den Medien immer extrem vereinfacht als ethnischer Konflikt zwischen Hutu und Tutsi dargestellt wird. Warum auch dies ein Ressourcenkonflikt war, in dem die politischen Akteure die“ ethnische Karte“ bewusst einsetzten, vermeintliche ethnische Unterschiede aber eben nicht die Ursache des Konfliktes waren, beschreibt dieses Dossier vom iz3w.

Und schließlich spricht Thomas Hüsken, ebenfalls Ethnologe, im taz-Interview darüber, dass das libysche „Stammessystem“ in Libyen die Organisationsform der Kommunalpolitik ist – und dass auch hier die Vorstellung von Stämmen als vormoderne rückständige Traditionalisten schlicht falsch ist.

Zum Abschluss ein Selbsttest

Jede/r LeserIn ist eingeladen, für sich einmal diese Frage zu beantworten: Welcher ethnischen Gruppe fühle ich mich eigentlich zugehörig und warum? Für alle deutschen also etwa: „Was macht mich eigentlich zur Deutschen und warum?“

 

Hier noch zwei weiterführende Links:

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