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African Feminist Bloggers im Ms. Magazine

Die Online-Ausgabe des Ms. Magazine stellt in ihrer Rubrik „The Hemisphäre“ jede Menge interessanter Blogs vor, aktuell African Feminist Bloggers Part 1 und Part 2. Ich habe mich noch nicht durch alle durchblicken, bzw. -lesen können, aber ich finde es eine super Sache.

Leser_Innen sind aufgefordert, weitere Blogs in den Kommentaren zu verlinken, vielleicht tut sich da in den nächsten Tagen noch etwas.

In früheren Beiträgen geht es u.a. um Reproduktive Rights Bloggers oder um Trans-Feminist Bloggers.

Viel Spaß beim Entdecken!

Wieder im Fokus: Familienplanung

Update 12.7.2012: Hier kann man nachlesen, wie hoch die Zusagen der auf dem Gipfel vertretenen Parteien für Programme der Familienplanung sind, hier die zugehörige Pressemitteilung von DFID und der Gates-Stiftung.

Über 2,6 Milliarden US-Dollar wurden von verschiedenen Regierungen und Institutionen zugesagt. Die größten Einzelbeiträge kommen von der britischen Regierung (800 Mio.), der Gates-Stiftung (560 Mio.), UNFPA (378 Mio.), Norwegen (200 Mio.), die Niederlande (160 Mio.), Frankreich (125 Mio.) und Deutschland (122 Mio.). Außerdem eine ganze Reihe zwei- und einstelliger Beträge weiterer Geberländer.

Die Gelder sind ausschließlich für Maßnahmen der Familienplanung gedacht, was separat von Maßnahmen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit gesehen wird, wie aus den Erläuterungen in der dritten Spalte ersichtlich wird. Neben Vertreter_innen der Geberländer viele Staats- und Regierungschef_innen von Entwicklungsländern gesprochen und ihre Unterstützung für den Ausbau des Zugangs zu Familienplanung in ihren Ländern signalisiert.

Spannend wird es natürlich erst jetzt, wo es an die Umsetzung geht, denn Geld alleine reicht natürlich nicht aus, um sinnvolle Maßnahmen umzusetzen und Wirkungen zu erzielen. Bis 2020 möchte die Gates-Stiftung mit ihren Partnern 120 Millionen Frauen, die bislang keinen Zugang zu Familienplanung haben, diesen ermöglichen. Es ist also wünschenswert, dass dazu nicht nur die finanziellen Zusagen eingehalten, sondern vor allem den zustimmenden Worten auch konkrete und wirkungsvolle Taten folgen werden.

Beitrag vom 11.7.2012

Heute, am Weltbevölkerungstag, findet in London der London Summit on Family Planning statt, organisiert von der Bill und Melinda Gates-Stiftung und der Britischen Regierung in Zusammenarbeit mit UNFPA, dem UN-Bevölkerungsfonds. Auf der verlinkten Seite kann der Tag im Livestream verfolgt werden.

Anliegen des Gipfels ist es, die internationale Aufmerksamkeit wieder vermehrt auf das Thema Familienplanung zu lenken, da es in den vergangenen Jahren weit aus dem Fokus internationaler Gesundheitsprogramme gerutscht war.

Insbesondere ist das Ziel, 120 Millionen Frauen bis zum Jahr 2020 Zugang zu Verhütungsmitteln und Informationen über Familienplanung zu verschaffen. Dazu sind angepasste Policies, Investitionen in Gesundheitssysteme sowie die Entwicklung von Kommunikationsstrategien nötig. Im Lauf des Gipfels soll bekanntgegeben werden, wie viele Mittel dazu mobilisiert werden; Reuters schätzt, dass es ein höherer dreistelliger (US$-)Millionenbetrag wird.

Das Anliegen der Gates-Stiftung ist, dass jede Frau das Recht dazu hat, selbst zu entscheiden, ob und wann sie schwanger werden möchte. Dafür sollen dann entsprechend Mittel bereit gestellt werden.

Verhütungsmittel alleine sind keine Lösung

Es bleibt allerdings abzuwarten, inwieweit sich ein wirklich umfassender Ansatz daraus entwickelt. Denn die Bereitstellung von Verhütungsmitteln und Information über Geburtenkontrolle ist nur ein Aspekt hierbei. Fast noch wichtiger ist, das Thema Sexualität als solches zu enttabuisieren und damit Frauen und Männern, Mädchen und Jungen überall auf der Welt überhaupt das entsprechende Wissen über ihre Körper und Sexualität zu vermitteln.

Das wiederum lässt sich schwierig in Programme packen, denn Maßnahmen, die zur Änderung von Verhalten und Einstellungen beitragen, greifen nicht kurzfristig und lassen sich auch nicht so leicht messen wie „Verteilen von x Medikamentenpackungen“.

Bislang ist es in vielen Gesellschaften (zum Teil durchaus auch in den vermeintlich aufgeklärten Industriegesellschaften) noch lange nicht üblich, dass Eltern mit ihren Kindern offen über Sexualität sprechen oder dass es angemessenen Sexualkundeunterricht in den Schulen gibt.

In der Arbeit zur HIV-Prävention in Tansania ist mir oft die Meinung begegnet, dass man Jugendliche nicht aufklären solle, da sie dann erst Recht Sex haben wollten und dann die Gefahr einer HIV-Infektion (oder ungewollten Schwangerschaft) viel höher sei. Ich bin da anderer Ansicht, und auch die hohe Anzahl von Teenagerschwangerschaften in vielen Ländern Afrikas (aber z.B. auch der USA, wo ein ebenfalls restriktives Verhältnis zu Teenager-Sexualität herrscht) spricht hier Bände.

Ich bin also gespannt, was das Ergebnis des Gipfels sein wird und welche Programme dem folgen. Es ist übrigens beeindruckend, fast könnte man schon sagen erschreckend, welche Rolle die Gates-Stiftung als Agenda-Setter spielen kann. Seit Monaten ist Melinda Gates in Talkshows und auf Konferenzen präsent und im Vorfeld des Gipfels berichten einschlägige Medien im Bereich EZ sehr viel zum Thema. Auch eine Artikelreihe in The Lancet ist erschienen. Nur in den deutschsprachigen Medien geht das Thema irgendwie unter. Das BMZ hat immerhin eine Pressemeldung veröffentlicht

Weitere Informationen

Twitter-Hashtag: #FPSummit

Meldung und einige Zusatzinformationen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung, die auch am FPSummit teilnimmt

Ein Beitrag von Tom Murphy von A View From The Cave mit Verweisen auf Aktivitäten der Gates-Stiftung; er wird im Lauf des Tages sicher noch mehr auf seinem Blog dazu schreiben

Ein Jahr Unabhängigkeit: Südsudan

Quelle: Urheber Domenico-de-ga,
http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:
Sudan_politisch_(%2BSüdsudan).png

Vor genau einem Jahr, am 9. Juli 2011, erklärte der Südsudan seine Unabhängigkeit vom Norden und wurde damit zum jüngsten Land der Erde. (Hier mein Beitrag vom 9.7.2011 und hier meine Eindrücke von einer Reise in den Südsudan im Mai 2011. Weitere Links am Ende des Textes.)

Die Einschätzungen der westlichen Beobachterinnen entsprechen sich in etwa. Von „steinigem Beginn“ (rocky start) oder „bitterem Jahrestag“ (bitter anniversary) ist die Rede.

Innerhalb des Landes bekämpfen sich mehrere bewaffnete Gruppen und Milizen und seit Anfang des Jahres kommt es in den Grenzgebieten immer wieder zu Gefechten mit der Armee des Nord-Sudan mit inzwischen mehreren Hundert Toten, auch wenn die UN soeben ihre Friedensmission mit 7.000 Blauhelmen verlängert haben.

Stopp der Ölexporte

Verschärft wird die Lage dadurch, dass der Südsudan seit Januar 2012 die Ölförderung komplett eingestellt hat. 98 Prozent der Staatseinnahmen machte das Ölgeschäft aus. Der Förderstopp kommt nicht nur den Südsudan teuer zu stehen, auch der Norden wird durch den Wegfall der Einnahmen stark geschwächt. Gefördert wird es im Süden, es kann derzeit aber nur durch Pipelines, die durch den Norden verlaufen, abtransportiert werden. Nachdem sich beide Länder nicht auf ein System zur Verteilung der Einnahmen einigen konnten, liegt nun also die Ölförderung auf unbestimmte Zeit brach.

Rückkehrer_innen, Binnenvertriebene, Flüchtlinge

Die ohnehin schon angespannte Lage verschlechtert sich dadurch derzeit sehr, wie auch verschiedene deutsche Hilfsorganisation berichten. Laut Diakonie Katastrophenhilfe leben rund 450.000 Rückkehrer_innen im Land, die im Zuge der Unabhängigkeit zumeist aus dem Norden und verschiedenen Nachbarländern in den Südsudan gekommen sind, dort aber zunächst in Lagern unterkommen müssen.

Dazu kommen 170.000 Binnenvertriebene, die vor diversen innerstaatlichen Konflikten geflohen sind. Im Nordosten halten sich dazu derzeit 120.000 Flüchtlinge aus dem sudanesischen Bundesstaat Blue Nile auf, die vor Kämpfen über die Grenze geflohen sind.

Einblicke in den Südsudan

Die Unabhängigkeit, schreibt James Copnall in einer Reportage für den Guardian, wird dennoch von den meisten Südsudanes_innen, die ihm begegneten, begrüßt.  Zu groß erschienen vielen zuletzt die Unterschiede zum und Spannungen mit dem Norden, als dass eine Einigung realistisch erschien.

Der Sudanese Moez Ali, Herausgeber des 500 Word Mag, betont, dass trotz der eher schlechten Aussichten, die meisten Skeptiker doch auch ihren Blick für die richtige Perspektive wahren sollten, schließlich waren die Voraussetzungen auch vor der Unabhängigkeitserklärung schon denkbar schlecht .

Weitere interessante Einblicke in die Situation im Land gibt diese ausführliche Reportage von Alexander Dziadosz, der über die schwierige Lage der Menschen in Pibor, im Bundesstaat Jonglei berichtet. Dabei setzt er sich auch mit der Bedeutung des cattle raiding, dem Stehlen von Vieh sowie den innergesellschaftlichen ethnischen Spannungen, auseinander.

Unterdessen im Norden: Proteste gegen das Regime in Khartoum

Seit Mitte Juni finden in Khartoum und in weitere Städten des Sudan immer wieder Proteste gegen die Regierung statt; von der deutschsprachigen Presse fast unbemerkt, wie AfrikaEcho schreibt, wo es auch mehr Informationen dazu gibt.

Weitere Links

Reportage „Front statt Feier“ in der FR

„Schmerzvoller Start für den Südsudan“ bei Tagesschau online mit Links zu Karten, Audio- und Videobeiträgen

„Plötzlich Beamter im Südsudan“ von der Deutschen Welle, Bericht über die Ausbildung von Verwaltungspersonal mit Unterstützung durch die deutsche GIZ

Arte-Reihe „Mit offenen Karten: Südsudan, ein neuer Staat in Afrika“ Beitrag 1/2 und Beitrag 2/2

Wenn das mein Kind wäre…

… würde ich es so vor den Augen der Welt sehen wollen? Nackt, unglücklich dreinschauend, mit dickem Hungerbauch und von Fliegen umkreist? Aber es ist ja „nur“ ein Kind aus Afrika, aus dem Südsudan, genauer gesagt, was auf einem der heutigen „Bilder des Tages“ bei SZ online zu sehen ist. Das darf man ruhig zeigen.

Update: Die Links sind nicht mehr aktuell, da die SZ-Redaktion in relativ rascher Abfolge neue Bilder online stellt. Bei den erwähnten Bildern handelt es sich um eine Aufnahme von Paula Bronstein von einem Kind in Yida, Südsudan sowie um ein Foto von Christopher Furlong von einem Kind in Staffordshire, Großbritannien.

Können wir uns ein kleines, weißes, blondes Kind derart abgebildet vorstellen? Unser eigenes Kind gar? Nein, unvorstellbar! Nie gesehen? Das ist auch nicht verwunderlich, sondern schlicht unseren rassistischen Seh- und Abbildegewohnheiten geschuldet.

Bilder, wie das eingangs erwähnte, tragen dazu bei, unser Bild von Afrika als dem „Krisenkontinent“, auf dem nichts als Elend, Krieg und Hunger herrschen, zu prägen und durch wiederholte Darstellung zu bestätigen. „Ach, das arme Kleine“, denkt man sofort und merkt dabei schon nicht mehr, wie sehr die Menschenwürde dieses Kindes mit Füßen getreten wird. Kinder aus Afrika werden ja immer so gezeigt. (Siehe dazu auch etwa auch den Film „White Charity“ und meinen Beitrag dazu).

Darstellungen wie die des Kindes aus dem Südsudan können aber nie damit gerechtfertigt werden, dass das eben die Bilder seien, die man „dort“ eben sieht. Auch bei der Darstellung von in Armut lebenden Menschen geht deren Würde immer vor und ist wichtiger als das vermeintlich gute Bild einer Fotografin. Bei meinem letztjährigen Besuch im Südsudan habe ich auch außerhalb der Hauptstadt durchaus Kinder angetroffen, die angezogen waren, gelacht und gespielt haben, wie es „normale“ Kinder überall auf der Welt eben tun. Beim betrachten des vorliegenden Bildes aber bestätigen sich wunderbar alle Vorurteile, die man über „Afrika“ ohnehin und seine Krisenregionen insbesondere bereits hat.

Übrigens wird, wie, um den Beweis zu schaffen, in derselben Fotostrecke ein weißes, blondes Mädchen in einer gewitzten Pose gezeigt. „Wie süß, die Kleine“, denkt man beim Betrachten, ganz anders als beim „armen“  afrikanischen Kind. Warum ist das nicht umgekehrt?

„Welche Bilder kann ich denn dann überhaupt benutzen?“ mag sich die Betrachterin fragen. Ganz einfach: Jene, bei denen ich damit einverstanden wäre, dass ich selbst oder mein eigenes Kind auf die entsprechende Weise fotografiert  bzw. abgebildet werden.

Dazu erschien neulich auch ein guter Beitrag der Fotografin Laura Pohl auf dem Blog von Linda Raftree, der sich damit befasst, wie Fotos im EZ-Kontext verwendet werden sollen. Sie listet einige Kriterien auf, von denen das erste lautet: „Würde – keine ausgemergelten Kinder, Fliegen in den Augen, Gewalt oder sonstige stereotype Abbildungen“.

Menschenrechtsbasierter Ansatz: Eine aktuelle Studie von UNICEF

Mein letzter Blogbeitrag über den menschenrechtsbasierten Ansatz (MA) entstand, nachdem ich einen Evaluierungsbericht gelesen hatte, aus dem ich im Folgenden einige Punkte vorstellen möchte.

In der 2012 veröffentlichten Studie Global Evaluation of the Application of the human-rights based Approach to UNICEF Programming hat UNICEF eine externe Evaluierung seines MA-Ansatzes durchführen lassen. Der Bericht ist ziemlich ausführlich, es gibt aber eine gute Zusammenfassung und wer sich sehr für MA-basierte Programmarbeit in der EZ interessiert, findet hier ein gute Beispiele aus der Praxis.

Interessant ist, die in der Evaluierung angesprochenen Punkte einmal weiterzudenken, denn dann stellt sich automatisch die Frage danach, inwieweit die konsequent zu Ende gedachte Umsetzung des MA-basierten Ansatzes nicht einen radikalen Bruch mit bisherigen EZ-Praktiken bedeuten würde. Dazu mehr im letzten Drittel des Textes.

Einfluss von Mitarbeiter_innen auf die Programmarbeit

UNICEF arbeitet seit 1998 mit einem MA-basierten Programmansatz und die Evaluierung bewertet die Arbeit als überwiegend positiv. Ein Hauptkritikpunkt ist allerdings, dass es bislang nicht gelungen ist, allen Mitarbeiter_innen ein einheitliches Verständnis des MA zu vermitteln.

Das liegt u.a. daran, dass es keine systematischen Schulungen dazu gibt und dass viele Mitarbeiter_innen ihr Verständnis von Menschenrechten mit einem Verständnis des MA gleichsetzen (UNICEF 2012: 39). Auch die (in vielen internationalen Organisationen üblichen) häufigen Personalwechsel spielen hier eine Rolle, denn durch sie gehen Wissen und Erfahrung verloren und viele Mitarbeiter_innen berichten, dass sie sich selbst anhand verfügbarer Dokumente über die MA-Thematik informieren müssen.

Nachvollziehbar ist schließlich auch die Anmerkung, dass die Ausrichtung der jeweiligen Länderprogramme stark abhängig vom zuständigen Personal, insbesondere der Büroleitung, ist (ibid.: 135). Fehlt hier eine eindeutige Positionierung zur MA-basierten Arbeit, so ist sie auch im gesamten Länderprogramm nur schwach ausgeprägt.

Wechselwirkungen mit dem gesellschaftlichen Kontext

Die Evaluierung beleuchtet auch das Spannungsfeld, das entsteht, wenn ein universell gültiger Ansatz für die Programmarbeit weltweit umgesetzt werden soll. Denn die MA-basierte Arbeit, auch wenn auf universalen Prinzipien gründend, muss immer regionale und länderspezifische Besonderheiten beachten muss, wenn sie wirkungsvoll sein und von den Partner_innen akzeptiert werden will. Zum Beispiel unterscheidet sich die politische Entscheidungsstruktur sehr stark oder ist in manchen Ländern wie z.B. Haiti, extrem schwach bis nicht vorhanden (ibid.: 41f). Entsprechend angepasst werden muss dann eben die konkrete Projektarbeit.

Erfolge bei der Gesetzgebung, Nachholbedarf bei Inklusion und Diskriminierungsfreiheit

Gute Ergebnisse erzielt die menschenrechtsbasierte Arbeit von UNICEF im Bereich der Gesetzgebung; in viele Partnerländern haben Regierungen inzwischen Gesetze erlassen, welche die Rechte von Kindern und Jugendlichen schützen und stärken. In Chile wurde zum Beispiel das Jugendstrafrecht entsprechend überarbeitet (ibid.: 61).

Nachholbedarf gibt es auch im Bezug auf Inklusion, also auf das Beachten der Rechte besonders benachteiligter Gruppen (ibid.: 75). Zwar herrscht Einigkeit darin, dass hier viel zu verbessern gilt, allerdings gibt es keine universellen Kriterien dafür, welche Gruppen als besonders benachteiligt gelten, da dies auch immer kontextspezifisch ist. Auch werden nicht alle betroffenen Gruppen gleichermaßen beachtet. So werden nur selten die Rechte von sexuellen Minderheiten (Schwule, Lesben, transgender, etc.) herausgestellt. Auch die Rechte von Kindern mit Behinderungen rücken zwar vermehrt in den Fokus, sind aber immer noch weit davon entfernt, immer selbstverständlich mitgedacht zu werden.

Partizipation: Anspruch und Wirklichkeit liegen weit auseinander

Wie die Evaluierung zeigt, gibt es auch großen Nachholbedarf in Bezug auf Partizipation: Obwohl im Programmansatz von UNICEF festgeschrieben, finden in der Praxis viel zu wenige Konsultationen mit den Menschen statt, für die Programme durchgeführt werden (ibid.: 61f). Tatsächlich findet regelmäßig weit mehr Abstimmung mit Vertreter_innen aus Politik und Verwaltung statt als mit den Rechteinhaber_innen: Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Partizipation ist allerdings ein wesentlicher Punkt und ein wesentlicher Arbeitsansatz, nicht nur in der Arbeit von UNICEF. Fast alle internationalen Geberorganisationen und NGOs haben sich das mittlerweile auf ihre Fahnen geschrieben. Die Fallstudie von UNICEF illustriert sehr schön, welche Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung lauern und wie viel Arbeit an den eigenen Denkweisen und Verhaltensmustern der Entwicklungsagenturen (NGOs eingeschlossen!) noch vor uns liegt.

So werden einige der befragten UNICEF-Mitarbeiter_innen so zitiert, dass sie es als „Last“ empfänden, sich mit den Menschen, die als Rechteinhaber_innen angesehen werden, auseinanderzusetzen. Das ist angesichts der bisherigen Praxis der EZ auch verständlich. Wirkliche Partizipation erfordert viel Zeit und die Fähigkeit, auf sehr unterschiedliche Menschen eingehen zu können. Vor allem Zeit ist immer knapp in der Programmarbeit.

Ist die Zeit reif für ein radikales Umdenken in der EZ?

Hier ist, soll der MA konsequent umgesetzt werden, ein grundsätzliches Umdenken gefordert. Während viele Entwicklungsprojekte immer noch eher über die Köpfe der beteiligten Menschen hinweg geplant werden (auch viele der Projekte, die das Etikett „partizipativ geplant“ tragen), verlangt ein konsequent umgesetzter MA eine wesentlich stärkere Beteiligung der Betroffenen, der Partner_innen oder „Klient_innen“, wie sie statt beneficiaries wohl besser genannt werden sollten.

Schon jetzt ist oft die Rede von „Partnerschaft auf Augenhöhe“ und eben die oft zitierte „partizipative Arbeit“ mit Partner_innen – Anspruch und Realität sind hier aber in der Regel nicht deckungsgleich. Das hat u.a. mit den vorherrschenden Anforderungen und Strukturen in der EZ zu tun. Fristen müssen eingehalten werden, Pläne müssen umgesetzt werden, ohne, dass viel Zeit für Feedbackschleifen wäre und wirkliches Feedback von Partner_innen einholen ist ebenfalls zeitaufwändig und nicht einfach.

Die größte Schwierigkeit ist das weiter bestehende Machtgefälle – hier die Organisation mit dem Geld (von privaten Spender_innen, Stiftungen oder staatlicher EZ, also Steuerzahler_innen), dort „die Armen“, für die etwas getan werden soll. Eine konsequente Umsetzung des MA müsste also auch bedeuten, die Menschen, für die Projekte und Programme umgesetzt werden sollen, in eine Kontrollfunktion zu versetzen. Organisationen, staatliche wie nichtstaatliche, sähen sich dann zunehmend in einer Art Sandwichposition zwischen Spender_innen oder Steuerzahler_innen aus dem Norden und „Partner_innen“ aus dem Süden. Das Gewicht müsste sich weit stärker in Richtung Rechenschaftspflicht gegenüber den Partner_innen verschieben als es bislang der Fall ist.

Ein konsequentes Umsetzen des MA würde daher radikal mit den bisherigen EZ-Praktiken brechen. Nicht nur müssten alle Beteiligten stärker in die Planungen einbezogen werden und hier mehr Mitspracherechte erhalten, auch müsste weit mehr Transparenz hergestellt werden als bislang üblich. Dazu gehört etwa auch das öffentliche Darlegen, welche Gelder wofür ausgegeben werden, Diskussionen darüber, wem erhobene Daten und abgefasste Berichte gehören oder auch die Einführung eines Mechanismus, wonach Geberorganisationen (NGOs eingeschlossen) vor ihren „Klient_innen“ Rechenschaft ablegen. Bislang tun die Organisationen das eher vor Spender_innen und Geldgeber_innen als vor den direkt Beteiligten. All das sind jedoch Konsequenzen, die sich aus einer ernsthaften Umsetzung des MA ergeben.

Evaluierungen wie die erwähnte sind also ein guter Anlass, um mehr darüber zu erfahren, was funktioniert, aber auch gleichzeitig darüber nachzudenken, inwieweit man den eigenen Ansprüchen gerecht wird und was verändert werden könnte, um die Arbeit zusammen mit Partner_innen noch konstruktiver zu gestalten.

Weiterführende Links

UNICEF 2012. Global Evaluation of the Application of the Human Rights-Based Approach to UNICEF Programming. Final Report, Volume I. New York: UNICEF. (PDF)

UNICEF-Global-Seite zum MA-basierten Ansatz (Link)

HRBA Portal: Portal der UN zum MA und zu Fragen der praktischen Umsetzung des MA in der Programmarbeit (Link)

Der menschenrechtsbasierte Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit: Worthülse oder neuer Weg?

Seit etwa zehn Jahren rückt der menschenrechtsbasierte Ansatz (im Folgenden MA; engl. rights-based approach) immer stärker in den Fokus der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Handelt es sich dabei nur um eine weitere sperrige Worthülse der an diesen nicht gerade armen EZ oder verbirgt sich auch Substanz dahinter?

Der MA basiert auf den internationalen Menschenrechtsinstrumenten, etwa der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, und zielt auf die Förderung und den Schutz von Menschenrechten. Aus der MA-Perspektive betrachtet sind Ungleichheit und „Unterentwicklung“ nicht bloße Folge von Armut sondern die Auswirkungen tiefergehender struktureller Probleme, wozu auch ungleiche oder unausgewogene Machtverteilung und Diskriminierung bestimmte Bevölkerungsgruppen gehört. Der MA geht also darin über die bisherige Praxis hinaus, dass nicht nur Bedürfnisse erfüllt, sondern strukturelle Ursachen (Menschenrechtsverletzungen) hinterfragt, aufgedeckt und angegangen werden.

Der klassische Entwicklungsansatz ist immer noch geprägt vom den Rollen der „Geber_innen“ und „Empfänger_innen“: Entwicklungsorganisationen setzen sich für „die Armen“ ein, d.h. geben ihnen etwas (Bauprojekte, Beratungsdienstleistungen, medizinische Versorgung) wodurch die Armut gelindert werden soll. Die EZ setzt zwar zunehmend auch auf allen Ebenen an und versucht, auch die „Graswurzelebene“ miteinzubeziehen, aber erst der MA rückt die Rechte der Empfänger_innen in den Vordergrund: Menschen in Entwicklungsländern sind Rechteinhaber_innen, die Rechte auf Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse aber auch auf Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und politischer Mitbestimmung haben.

Sie sind also nicht mehr bloße Empfänger_innen von Hilfsleistungen, sondern Anspruchsberechtigte und Rechtsträger_innen (rights holders)  gegenüber staatlichen Institutionen, die nun als Pflichtträger (duty bearers) gesehen werden und nicht nur als Dienstleister.

Ziel des MA ist es also, Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Rechte zu kennen und sie einfordern zu können. Gleichzeitig liegt der Fokus auch darauf, staatliche und weitere Institutionen dafür zu sensibilisieren, dass es diese Rechte gibt und sie diese Rechte umsetzen müssen. Eine ausführliche und verständliche Darstellung des MA gibt es beim Deutschen Institut für Menschenrechte.

Der Menschenrechtsansatz in der Praxis

Was heißt das in der Praxis? Wo früher etwa festgestellt wurde „hier gibt es keine Schule, also bauen wir eine“, muss vor dem Bauen eine Analyse zusammen mit allen Beteiligten erstellt werden: Kinder haben das Recht auf Bildung und müssen daher die Möglichkeit haben, eine Schule zu besuchen. Der Staat und seine Behörden müssen in die Pflicht genommen werden und Kinder und ihre Familien müssen dazu befragt werden, wie ein solches Vorhaben aus ihrer Sicht am besten umgesetzt werden kann. Auch sollten sie dabei unterstützt werden, sich mit ihren Anliegen direkt an die zuständigen Behörden zu wenden.

Schließlich ist auch ganz wichtig darauf zu achten, wie Diskriminierung vermieden werden kann. Gibt es z.B. Kinder, die die Unterrichtssprache nicht sprechen und muss der dann Unterricht dahingehend angepasst werden? Werden bestimmte Gruppen vom Unterricht ausgeschlossen? Wenn ja, was sind die Ursachen und wie können sie angegangen werden? Auch sollten Schulen immer barrierefrei sein und nach Geschlechtern getrennte sanitäre Anlagen besitzen.

Das klingt trocken und theoretisch, ist aber wichtig, nicht zuletzt auch für den Umgang von Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit miteinander. Galten die „Armen“ meist als passive Leistungsempfänger-innen (auch heute noch ist sehr oft die Rede von „beneficiaries“), so werden sie von der MA-Perspektive aus immer mehr als PartnerInnen gesehen, denen Rechte zustehen, die es einzufordern gilt.

Der MA rückt außerdem vor allem die am meisten benachteiligten Menschen ins Zentrum, zum Beispiel Angehörige von Minderheiten, Menschen mit Behinderungen oder Kinder und Jugendliche, also alles Menschen, deren Stimmen im gesellschaftlichen Alltag noch weniger gehört werden als andere.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) eine Reihe mit „Promising Practices“, mit vielversprechenden Projektansätzen herausgegeben, die zahlreiche Beispiele für eine menschenrechtsbasierte Entwicklungszusammenarbeit aufzeigt.

Ein Beispiel: Wasserversorgung in Kenia

Auf der Grundlage des MA führte das kenianische Ministerium für Wasser und Bewässerung eine Richtlinie ein, wonach das menschliche Grundrecht auf Wasser oberstes Prinzip aller Aktivitäten ist. Daran müssen auch alle Maßnahmen der EZ im Lande ausgerichtet sein.

Das geschieht nicht ohne Probleme, so musste etwa der Vorbehalt ausgeräumt werden, ein solcher Ansatz bedeute, dass nun alle Menschen Anspruch auf eine kostenlose Wasserversorgung haben. Was aber schon sein soll ist, dass eine stärkere Ausrichtung hin auf die Bedürfnisse sehr armer Menschen stattfinden muss. So können z.B. private Anbieter nun nicht mehr vorwiegend von Armen bewohnte Gegenden unversorgt lassen und müssen auch hier für den Ausbau von Versorgungssystemen sorgen.

Inzwischen enthält sogar die kenianische Verfassung das Recht auf Wasser und Abwasserentsorgung. Das Ganze ist natürlich ein langer Prozess und noch weit von der Vollendung entfernt, wie überall müssen sich bei allen Beteiligten Einstellungen und eingeschliffene Abläufe ändern. Aber wie so oft ist es auch hier der stete Tropfen, der die Veränderung bringen kann.

Der MA in der Praxis: Anspruch und Realität

Der MA bedeutet nicht, dass nun alles für alle kostenlos sein muss. Vielmehr steht er dafür, dass der Staat die Pflicht hat, zu gewährleisten, dass alle Menschen Zugang zu Diensten wie Bildungsangeboten, Gesundheitsversorgung, etc. haben, dass sie sich diese als leisten können müssen. Das bedeutet auch, dass die Menschen die Möglichkeit haben müssen, jene Mittel verfügbar zu haben, mit denen sie diesen Zugang erhalten können. Also z.B. angemessen für landwirtschaftliche Produkte oder Lohnarbeit bezahlt werden oder überhaupt die Möglichkeit haben, Einkommen zu erwirtschaften.

Was den MA so bedeutend macht ist vor allem die damit verbundene Sichtweise auf die Menschen. „Die Armen“ gelten nicht länger als passive Hilfsempfänger_innen, denen etwas vorgesetzt wird, sondern sie sind Träger_innen von Rechten, bei deren Einforderung sie unterstützt werden. Was so schön in der Theorie klingt, ist in der Praxis noch lange nicht umgesetzt, aber die Tendenz ist da und der Weg wird auch hoffentlich weiter in diese Richtung beschritten.

Wie oben erwähnt, setzt der MA voraus, dass sich alle Beteiligten ihrer Rolle bewusst sind und sie vertreten können (und wollen); sowohl Rechteinhaber_innen als auch Pflichtträger_innen. Das ist schwierig und setzt einen langen Prozess des Bewusstseinswandels voraus – was wohl eher Jahrzehnte als Jahre dauern wird. Dennoch ist es ein konsequenter und ein moralisch richtiger Ansatz, denn er nimmt die Menschen ernst und erkennt an, dass alle gleich sind.

Auf lange Sicht ist es wünschenswert, dass die EZ lernt, dass alle Menschen gleich ernst genommen werden müssen und dass sich nicht nur die Partner_innen ändern müssen, sondern auch die Konzepte und Methoden, mit denen wir arbeiten und zusammen arbeiten.

Innehalten und Erinnern: Genozid-Gedenkstätten in Ruanda

Fenster in der Genozid-Gedenkstätte Gisozi

Der folgende Beitrag ist die Überarbeitung eines Textes von 2008, der während einer Reise durch Ruanda entstand. Ich hatte vor Kurzem über die Gacaca-Justiz in Ruanda geschrieben und wurde beim Schreiben an meine eigenen Eindrücke erinnert, als Ergänzung um eine persönliche Perspektive daher die unten stehende Veröffentlichung.

Ein Hinweis vor dem Lesen: Es geht um das Thema Tod und es werden explizite Bilder beschrieben, nicht jedeR möchte sich dem möglicherweise aussetzen, daher sei hiermit davor gewarnt.

Wer sich mit Ruanda beschäftigt, kommt nicht um den Genozid herum. Vor Ort kann man ihm auch nicht entgehen. Überall entlang der Landstraßen begegnen einem die rosa gekleideten Sträflingskolonnen. Viele von ihnen sind Völkermordverbrechen bezichtigt und sie müssen zum Beispiel im Straßenbau oder der Landschaftspflege arbeiten.

Es gibt mehrere Gedenkstätten im Land, etwa die zentrale Gisozi Genocide Memorial Site in Kigali, ein Museum, das mittels einer Multimedia-Ausstellung die Geschichte des Genozids in Ruanda darstellt und daneben Genozide weltweit thematisiert.

Auch außerhalb Kigalis erinnern einige Orte an die grausamen Ereignisse des Jahres 1995, zum Beispiel die Kirche in Nyamata. Über 5.000 Menschen hatten in dem kleinen Steingebäude Schutz gesucht. Dicht aneinander gedrängt und in Todesangst müssen sie hier ausgeharrt haben, bevor sich ihre Mörder Zutritt zur Kirche verschaffen und mit einem zwei Tage andauernden Massaker beginnen konnten. Zum Schluss warfen sie Granaten, damit auch kein Mensch überleben sollte. Von den Granatsplittern geschlagene Löcher sind bis heute in den Wänden und der Decke sichtbar.

Auf den Kirchenbänken und rund um den Altar liegen die Kleidungsstücke der Getöteten, Hosen, Blusen, Röcke, Hemden, Pullover, in allen Größen und Farben. Hinter der Kirche gibt es mehrere unterirdische Grabkammern. Hier liegen die Knochen und Schädel von 45.000 Toten. Durch ein enges Fenster kann man in die Gruft hinabsteigen und an Regalen mit Gebeinen entlang gehen, Schädel aller Größen vom Kleinkind bis zum Erwachsenen sind dort aufgebahrt, einige haben Löcher von Macheten.

Zum Eindringlichsten, was ich je erlebt habe, gehört der Besuch der Gedenkstätte Murambi. Diese ehemalige Berufsschule diente 30.000 Menschen als Zufluchtsort während des Völkermordes. Heute sind 2.000 Tote in den 24 ehemaligen Klassenräumen aufgebahrt und es gibt ein Massengrab auf dem Gelände.

Die Gedenkstätte ist etwas abseits einer Hauptstraße gelegen, vielleicht 3 Kilometer. Vier sich hier zufällig begegnende Besucherinnen, zwei Deutsche, zwei Amerikanerinnen, treffen sich in der neu errichteten lichten Eingangshalle der Gedenkstätte, etwas abseits von den früheren Schulgebäuden gelegen.

Niemand spricht etwas und zunächst ist kein Mensch zu sehen. Plötzlich steht ein junger Mann in der Tür und sagt leise: „Come.“ Er geht voran zu dem aus mehreren Gebäuden bestehenden Schulkomplex. Jedes Gebäude besteht aus sechs Räumen, die jeweils von einer Veranda abgehen. Der junge Mann schließt wortlos alle sechs Türen des ersten Gebäudes auf.

In allen Räumen sind mumifizierte, von Kalk weiße Leichen aller Altersstufen nebeneinander auf Holzgestellen aufgebahrt. An manchen Wänden sind noch Blutspritzer zu sehen. Vereinzelt liegen Plastikblumen zwischen den Toten; über allem ein leicht süßlicher Geruch. Angesichts dieses Anblicks fühlen wir alle große Beklemmung. Es herrscht Stille bis auf das Knacken des sich in der heißen Sonne ausdehnenden Wellblechdaches. Die Fenster sind mit Plastikplanen verhängt. Nach dem Verlassen eines Raumes schließt der junge Mann hinter uns ab. Was für ein schrecklicher Ort, um hier jeden Tag zu sein.

In manchen Räumen liegen vorwiegend Kinder: Babys, Kleinkinder, Kinder im Grundschulalter. Draußen die Schreie junger Ziegen, sie klingen wie Kinderweinen. Was haben wohl die Menschen in den umliegenden Häusern, Dörfern, Hügeln während des Massakers gehört? Waren dort überhaupt noch Menschen in jenen Tagen?

Aus jedem Raum erneut auf die Veranda kommend, fällt der Blick auf die umliegenden grünen Hügel, welch ein Kontrast. Es fällt mir schwer, das Gesehene zu erfassen, noch nie habe ich einen toten Menschen gesehen und nun gleich so viele auf einmal. Viele Schädel sind eingeschlagen, zertrümmert, haben Löcher, viele Körper sind grotesk verdreht. Sie sind alle anonym und wirken in gewisser Weise entmenschlicht, weil sie weiß sind, geschrumpft, mumifiziert. Doch bei vielen erkennt man noch die Gesichtszüge, manche Münder schreien, viele Schädel haben noch Haare, manche Körper sind bekleidet.

Der junge Mann geht weiter zum zweiten Gebäudekomplex. Noch mehr Tote sind dort aufgebahrt. Nach dem Verlassen des zwölften Raumes steht plötzlich ein älterer Mann vor dem Gebäude und fragt „You have seen enough, have you?“. Später erzählt er, dass er seit zehn Jahren hier arbeitet. Er weiß um die Wirkung der Toten auf die Lebenden und übernimmt nun den Abschluss der Führung. Bringt uns in einen Raum, in dem nur einzelne Gebeine und Schädel liegen, in eine Halle, in der in den Fächern vieler Regale die Kleider der Toten aufbewahrt werden, und schließlich, vorbei an einem Massengrab, zurück zur Eingangshalle, wo eine Spende geleistet und ein Eintrag in das Gästebuch vorgenommen werden kann.

Den Rückweg zur Hauptstraße gehen wir, die uns hier zufällig getroffen haben, zu Fuß. Viele Menschen sind unterwegs, die meisten, die uns entgegenkommen, grüßen uns, die Kinder fragen nach Süßigkeiten oder Geld, ein Junge schüttelt uns die Hände und sagt: „I want to greet you.“ Ein kleines Mädchen begleitet uns ein Stück und nimmt uns dabei abwechselnd an der Hand. Man merkt, wie dicht besiedelt das Land ist, überall Menschen, jedes Stück Land ist bebaut oder kultiviert.

2012

Beim Lesen und Überarbeiten des Textes kommen die Erinnerungen an das Erlebte zurück und ich frage mich, wie schon damals vor Ort, wie eine Gesellschaft solche unglaublichen Ereignisse aushalten kann. Eine Frage, die in meiner eigenen Gesellschaft auch von zentraler Bedeutung ist (obwohl von vielen geleugnet). Und in der Tat findet jede Gesellschaft Wege, mit den schlimmsten Ereignissen zurecht zu kommen, was jedoch auch immer bedeutet, dass bestimmte Geschichten nicht erzählt werden und die Bedürfnisse vieler Menschen nicht berücksichtigt (werden).

Ich halte Gedenkstätten daher für wichtige Einrichtungen nicht nur zum Zweck der Erinnerung sondern auch als Anregung der Selbstreflektion aller BesucherInnen. Man kann niemanden zwingen, sich mit den dargestellten Ereignissen auseinanderzusetzen, aber doch halte ich es für wichtig, immer wieder Blicke in die Abgründe der Menschheit zu werfen, da diese Abgründe überall lauern.

Die Frage „was hätte ich getan“, sollte sich jedeR immer wieder stellen – auch wenn man sie natürlich niemals wirklich beantworten kann. Sie es auch eine Warnung. Eine Warnung und Mahnung davor, dass das, was wir sehen, in uns allen angelegt ist, ganz unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, Klasse, und anderem.

Der schwierige Weg zur Aussöhnung: Gacaca-Gerichte in Ruanda

In diesem Text geht es um Ethnizitätskonflikte und ihre Folgen in Ruanda. Die Thematik kann nicht auf die Formel „Hutu gegen Tutsi“ heruntergebrochen werden, ohne den zugehörigen komplexen historischen Kontext mitzudenken. Die deutsche Wikipedia bietet dazu eine gute Übersicht mit einer langen Liste weiterführender Literatur.

Am vergangenen Montag, von deutschsprachigen Medien quasi unbemerkt, beging Ruanda mit einem Festakt das offizielle Ende der Gacaca-Verfahren.

Fast eine Million Menschen starben während des Völkermordes in Ruanda im Jahr 1995, mindestens drei Viertel der zuvor in Ruanda lebenden Tutsi-Bevölkerung wurden ermordet. Bald nachdem die (Tutsi-)Rebellenarmee RPF unter dem heutigen Präsidenten Kagame den Bürgerkrieg beendet hatte (nicht ohne selbst Kriegsverbrechen zu begehen), saßen über 130.000 Häftlinge in ruandischen Gefängnissen (ausgelegt mit einer Kapazität von 12.000). Die bestehenden Gerichte wären mit der Anzahl an Verfahren niemals in überschaubarer Zeit fertig geworden, daher entwickelte die Regierung auf Grundlage eines traditionellen Verfahrens der Verhandlung auf Gemeindeebene die Gacaca-Justiz.

Was ist Gacaca?

„Wir hatten drei Möglichkeiten: Die erste war der gefährliche Weg der Rache, die zweite eine allgemeine Amnestie. Beides hätte zu mehr Anarchie und Zerstörung geführt. Wir haben einen dritten und schwierigeren Weg gewählt, nämlich, entschieden für die Wiederherstellung von Einheit und Integrität unserer Nation einzutreten.“ Mit diesen Worten beschreibt Paul Kagame, Präsident Ruandas, die Entscheidung, die Genozid-Verbrechen mithilfe eines neuen Modells der Gerichtsbarkeit aufzuarbeiten.

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Heute ist „Day of the African Child“

Heute ist wie jedes Jahr am 16. Juni „Day of the African Child“. Mit diesem Gedenktag erinnert die Afrikanische Union (AU) an die vielen Tausend Schwarzen Jugendlichen, die am 16. Juni 1976 in Soweto, Südafrika, gegen die schlechte Qualität ihres Bildungssystems protestierten. Fast 200 unbewaffnete Demonstrierende wurden damals von Polizisten erschossen. Die Jugendlichen demonstrierten für bessere Bildung und für das Recht, in ihren eigenen Sprachen unterrichtet zu werden anstatt in Afrikaans – für die Schwarze Bevölkerung die Sprache der Unterdrücker.

Rund um den 16. Juni finden inzwischen jedes Jahr Veranstaltungen unter einem Motto statt, das sich jeweils auf ein aktuelles Thema, das Kinder in Afrika betrifft, bezieht. Das Motto in 2012 lautet „The Rights of Children with Disabilities“: ‚the duty to protect, respect, promote and fulfil.’“ (Rechte von Kindern mit Behinderung. Die Pflicht, sie zu schützen, zu respektieren, voranzubringen, und zu erfüllen.“).

Hier ein ausführliches Hintergrundpapier zum Thema, erarbeitet vom African Committee of Experts on the Rights and Welfare of the Child (ACERWC), mit Empfehlungen für afrikanische Regierungen zur Umsetzung politischer Maßnahmen sowie  Vorschlägen für Aktivitäten zum heutigen Aktionstag.

Kinder mit Behinderungen: Immer noch übersehen und übergangen

Die Rechte und Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen rücken erst ganz allmählich in den Fokus der Zivilgesellschaft und der Regierungen vieler Entwicklungsländer und auch die Entwicklungszusammenarbeit hat hier großen Nachholbedarf. Selbst viele derjenigen Organisationen, die sich für Kinder und ihre Rechte einsetzen, haben sich lange Zeit nicht übermäßig für Kinder mit Behinderungen engagiert.

Maßnahmen wie etwa Barrierefreiheit bei Baumaßnahmen, Schaffen von Bildungsangeboten für Seh- oder Hör-beeinträchtigte Kinder oder Ausbildung speziell geschulter LehrerInnen gab und gibt es nur spärlich, wenn auch mit steigender Tendenz. Zahlen der britischen NGO Sightsavers, die sich für Blinde einsetzt, lassen darauf schließen, das ein Drittel der Kinder in Entwicklungsländern, die keine Schule besuchen, eine Behinderung haben, weltweit rund 23 Millionen. Neben fehlenden Angeboten spielen vielerorts auch Vorbehalte und Ablehnung gegenüber behinderten Menschen eine große Rolle, so dass Eltern dazu neigen, ihre Kinder zu verstecken.

Es fehlen gesellschaftliches Bewusstsein und politischer Wille 

Eine aktuelle Studie des in Südafrika ansässigen Secretariat of the Africa Decade of Persons with Disabilities (SADPD) mit Daten aus Malawi, Lesotho, Namibia, Swasiland und Südafrika zeigt, wie tief diese Vorbehalte in vielen afrikanischen Ländern weiterhin sind, was gleichzeitig auch die Ursache dafür ist, dass es kaum Angebote und entsprechende (finanzielle) Mittel gibt, um Kindern mit Behinderungen etwa den gleichberechtigten Zugang zum Bildungssystem ermöglichen. Dazu wiederum haben sich die afrikanischen Regierungen (mit Ausnahme Somalias) durch Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention jedoch verpflichtet.

Da aber Kinderrechte ohnehin nicht auf der Agenda der meisten afrikanischen Regierungen stehen, ist es leider wahrscheinlich, dass Kinder mit Behinderungen weiterhin vom Zugang zu Bildung und anderen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen werden und sich hier nur sehr langsam ein Wandel hin zu mehr Chancengleichheit und Gleichberechtigung vollziehen wird.

Immerhin zeigen Ereignisse wie die oben zitierte Studie und eine damit im Zusammenhang erfolgte Konferenz zum Thema, organisiert von SADPD zusammen mit dem Ministerium für Bildung und Ausbildung Swasilands und der Open Society Initiative for Southern Africa (OSISA), dass es zumindest Ansätze gibt, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und mehr und bessere Daten zu generieren, auf deren Grundlage Vorschläge für konkrete Maßnahmen erarbeitet werden können.

Neue Studie: „Brustbügeln“ in Kamerun

Über Linda Raftree bin ich auf eine neue Studie aufmerksam geworden, die die Praxis des „Brustbügelns“ (breast ironing oder breast flattening) in Kamerun untersucht. Für „Understanding Breast „Ironing“: A study of the methods, motivations, and outcomes of breast flattening practices in Cameroon“ hat Rebecca Tapscott Menschen in Bafut, in Nord-Kamerun befragt und präsentiert ihre Auswertung und Empfehlungen in einem lesenswerten Bericht.

Erstmals empirisch untersucht wurde die Praxis durch die GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, früher GTZ). Die unveröffentlichte GIZ-Studie diente Tapscott als Basis für ihre eigene qualitative Studie. Vorliegende Daten stammen aus Kamerun, es gibt jedoch Hinweise, dass auch in anderen Ländern Westafrikas sowie in Kenia und Simbabwe ähnliche Praktiken vorkommen.

Brustbügeln, so Tapscott, muss in einem gesellschaftlichen Kontext gesehen werden, in dem Mütter ihre Töchter vor sexueller Gewalt und Ausbeutung schützen wollen. Die Praxis geschieht in einem sich rapide wandelnden Umfeld, das vor allem für Mädchen und junge Frauen viele Unsicherheiten birgt. Dazu gehören die Tabuisierung von Sexualität, ungleiche Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen sowie die fehlende Sanktionierung sexueller Gewalt. Dadurch lässt sich, so Tapscott, der Wunsch vieler Mütter, ihre Töchter vor ungewollten Schwangerschaften und sexueller Gewalt zu schützen, erklären.

Was ist „Brustbügeln“?

Laut der GIZ-Studie sind 24% der kamerunischen Mädchen betroffen. Die Arten der Anwendung sind sehr unterschiedlich. Mit erhitzten Objekten wie Stöcken, Steinen oder Blätter wird das Brustgewebe massiert. Die Häufigkeit variiert von einmalig bis hin zu mehrmals am Tag über mehrere Wochen hinweg.

Es gibt bislang keine medizinische Langzeitstudie zu den Folgen der Praxis; es überrascht aber nicht, dass sie schwere Verletzungen wie Verbrennungen, Schwellungen, Entzündungen, Fieber oder starke Schmerzen zur Folge hat. Es existieren ebenfalls keine Untersuchungen über psychische Langzeitfolgen. Die GIZ-Daten lassen aber darauf schließen, dass die Praxis die betroffenen Mädchen schwer belastet, weil viele die Praxis als Strafe begreifen, einhergehend mit dem Gefühl, ihre Eltern enttäuscht zu haben.

Was ist die Ursache?

Tapscott ist der Ansicht, dass eine Ursache für die Praxis im sozialen Wandel der kamerunischen Gesellschaft liegen könnte, der traditionelle Verhaltensweisen und soziale Normen aufweicht und damit auch Ängste auslöst.

Kamerun ist in weiten Teilen eine patriarchale Gesellschaft in der viele Frauen wirtschaftlich von Ehemännern abhängig waren. Dies ändert sich allmählich, auch, weil kamerunische Mädchen (länger) zur Schule gehen, Berufe ergreifen und damit wirtschaftlich stärker werden. Dadurch steigt auch das Heiratsalter (früher waren Heiraten üblich, sobald Mädchen ihre erste Menstruation hatten).

Vielerorts bestehen traditionelle Vorstellungen von „Reinheit“ fort, wozu auch Jungfräulichkeit vor der Ehe gehört. Viele Eltern haben Angst vor sexueller Aktivität ihrer Töchter, vor allem vor ungewollten Schwangerschaften, da diese oft dazu führen, dass Mädchen ihre Schulausbildung abbrechen müssen und später geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Auch verringert es ihre Chancen, einen Ehepartner zu finden.

Gleichzeitig ist Sexualität ein Tabu-Thema, über das nicht gesprochen wird, Verhütungsmittel sind kaum erhältlich und Abtreibung ist illegal. Aufklärung besteht oft in der Warnung „nicht mit Jungen zu sprechen“. Dazu kommen auch falsche Vorstellungen über Biologie, etwa eine mehrfach geäußerte Ansicht Erwachsener dass Brüste dann wüchsen, wenn Mädchen von Männern berührt würden oder wenn sie an Sex dächten. Damit geht die Auffassung einher, wonach das Verzögern des Brustwachstums den Beginn der Pubertät herauszögert.

Viele Männer, so Tapscott, sind der Ansicht, dass körperlich reife Mädchen „reif“ für sexuelle Aktivität sind. In Kamerun steigt zudem die Rate von Vergewaltigungen, die fast nie bestraft werden, auch das ist Grund zur Sorge für viele Eltern und kann eine Ursache für das „Brustbügeln“ sein.

Aufklärungskampagnen und was weiter getan werden sollte

Neben der GIZ führt auch die kamerunische NGO RENATA eine Aufkärungskampagne gegen das „Brustbügeln“ durch. Ihr Slogan „Do not iron breasts. They are a gift of God“ (Bügle keine Brüste. Sie sind ein Geschenk Gottes.) scheint nach Tapscott Wirkung zu zeigen, da viele ihrer GesprächspartnerInnen ähnliche Worte benutzten, was die Autorin als Zeichen dafür wertet, dass die Botschaften bei den EmpfängerInnen ankommen.

Obwohl Kamerun verschiedene internationale Menschenrechtsverträge ratifiziert hat, ist die Praxis bislang nicht strafbar. Tapscott berichtet allerdings von ersten Anzeichen, dass Kinder selbst sie zu hinterfragen beginnen, was mehrere von ihr befragte Frauen als Ursache für einen allmählichen Rückgang der Praxis anführten.

Tapscott ist der Meinung, dass eine Kriminalisierung kein wirkungsvoller Ansatz zur Beendigung der Praxis ist, vor allem, da sie aus der Absicht von Müttern heraus geschieht, ihre Töchter vor sexueller Ausbeutung zu schützen. Wirkungsvoller ist Aufklärung und öffentliche Diskussion, die die gesundheitlichen Folgen thematisieren aber auch die weitgehende Tabuisierung von Sexualität abbauen und das negative Ansehen von außerehelicher Sexualität abbaut. Dazu ist ein umfassender Ansatz nötig, der auch die Gesundheits- und Bildungsbehörden mit einbezieht.

Darüber hinaus sind auch Maßnahmen nötig, die den gesellschaftlichen Kontext, in dem Mädchen und junge Frauen häufig von sexueller Gewalt und Ausbeutung betroffen sind, ändern. Das ist nicht nur mit Aufklärung alleine nötig, sondern hat vielfältige wirtschaftliche, soziokulturelle und auch regionale Ursachen.

Gesellschaftlicher Kontext und Respekt

Die Studie ist ein interessantes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, gesellschaftliche Ereignisse in ihrem Kontext zu betrachten und zu analysieren. Das heißt nicht, dass man sie akzeptiert oder als gegeben hinnimmt – Tapscott selbst richtet ihren Bericht explizit an alle, die sich für die Rechte von Kindern und Frauen einsetzen und sich für die Abschaffung sogenannter „schädlicher traditineller Praktiken“ (harmful traditional practices) einsetzen.

Es heißt aber sehr wohl, dass man, wenn man sich engagieren will oder Maßnahmen zu Änderung bestimmter Praktiken wie dem Brustbügeln umsetzen will, den Kontext gut kennen muss. Nur wenn man sich mit dem Kontext vertraut gemacht hat, kann man entsprechende Maßnahmen formulieren und vor allem den betroffenen Menschen auch mit dem notwendigen Respekt entgegentreten.