Seit gut einer Woche wird über „#Oxfamgate“ (siehe umfassende Bibliographie von Tobias Denskus) diskutiert; inzwischen sind auch Fälle aus anderen Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen und dem IRC bekannt geworden. Heute ging dann Plan International Niederlande an die Öffentlichkeit.
Vermutlich werden weitere Fälle folgen. Und ganz neu ist das Thema Machtmissbrauch und Hilfsorganisationen auch nicht. Seit Jahren gibt es immer wieder Fälle, bei denen UN-Soldaten im Fokus stehen, etwa in Haiti, der Zentralafrikanischen Republik oder der Demokratischen Republik Kongo.
Das Ganze ist (leider) Wasser auf die Mühlen von Kritiker/innen der Entwicklungszusammenarbeit insgesamt und der Arbeit von NGOs im Besonderen. So viel Anlass zur Kritik es gibt (ich selbst reihe mich hier gerne ein), so unfair ist es, mit den aktuellen Missbrauchsfällen eine Generalkritik der Arbeit der NGOs zu verbinden.
Denn nicht die NGOs an sich sind das Problem; vielmehr sind die aktuellen Fälle einmal mehr Beleg dafür, dass unsere Gesellschaft insgesamt gewaltige strukturelle Probleme hat, die sich dann eben auch in allen möglichen Organisationskulturen niederschlagen.
Die aktuellen Debatten um „MeToo oder #BlackLivesMatter zum Beispiel weisen auf solche auf bestehenden Ungleichheiten hin und sind der Kontext zu #Oxfamgate, ebenso wie die seit Jahren (leider nur) in Nischen geführte Debatte um das ungleiche und von Ausbeutung gekennzeichnete Verhältnis zwischen den Ländern des globalen Nordens und des globalen Südens.
Sich als Hüter/innen der Moral darzustellen schafft Fallhöhe
Was im Zusammenhang mit den NGOs kritisiert werden kann, ist ihre langjährige Selbstdarstellung als Hüterinnen der Moral und Menschenrechte, denn wie sich zeigt sind dies Versprechen, die die Organisationen nicht einhalten konnten.
Ich gehe davon aus, dass es keine NGO in der Größe wie Oxfam oder Plan gibt, in der es nicht wiederholt zu ähnlichen Fällen gekommen ist oder immer noch kommt. Die Organisationen arbeiten weltweit mit Tausenden Angestellten und freien Mitarbeitenden. Bei einer so großen Anzahl an Mitarbeitenden muss letztlich davon ausgegangen werden, dass sich darunter auch schwarze Schafe tummeln – so, wie diese sich in allen anderen Bereichen der Gesellschaft tummeln, leider.
Mit Sicherheit haben viele Organisationen gute Verfahren entwickelt, um interne Missbrauchsfälle zu melden, aber in so komplexe Systeme wie einer internationale NGO gibt es eine Vielzahl von Machtebenen, die hier eine Rolle spielen und Fehlverhalten begünstigen.
Wie in anderen Organisationen auch üben Vorgesetzte Macht über untergebene aus; NGO-Mitarbeiter über Mitarbeiter von Partnerorganisationen und –gemeinden. Und wo eine Person die Macht hat, Ressourcen zu geben und zu entziehen (etwa (Projekt)gelder), wird sich die zweiter Person in vielen Fällen nicht trauen, sich a) zu wehren oder b) Vorfälle zu melden.
Ich will damit das Verhalten Einzelner auf keinen Fall entschuldigen, vielmehr bin ich entsetzt darüber – und doch schockiert es mich auch wieder nicht, da ich mich eben schon sehr lange kritisch mit der Arbeit von NGOs auseinandersetze. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie unkritisch NGOs nach außen hin mit dem Thema Machtstrukturen umgehen.
Wir brauchen eine ehrliche Debatte über Machtverhältnisse in der Nord-Süd-Arbeit
Ich wünsche mir, dass unter NGOs, insbesondere den großen, aber an sich unter allen NGOs und sonstigen Organisationen, die mit Nord-Süd-Partnerschaften arbeiten, eine ehrliche Debatte darüber beginnt, mit welcher Art Machtstrukturen sie arbeiten und wie sie dazu beitragen, bestehende Machtstrukturen zu erhalten, aufzubauen und zu verfestigen.
Auch und gerade jene Organisationen, die sich für Menschenrechte und Armutsbekämpfung einsetzen. Denn auch die beste Absicht kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Arbeit der NGOs immer ein Machtungleichgewicht gibt.
Begriffe wie „Partnerschaft auf Augenhöhe“, „unsere Partner“, „grassroots“ „lokaler Fokus“, etc. verschleiern, dass NGOs aus dem Norden immer, immer, immer viel mehr an Macht besitzen gegenüber lokalen Partnern und Individuen aus den Ländern und Gemeinden, die sie als ihre Partner bezeichnen.
Eine Partnerschaft auf Augenhöhe kann es nicht geben, wenn eine Seite das Geld gibt und die Agenda setzt (was de facto geschieht, auch wenn die offizielle Kommunikation lautet, dass die Partner vor Ort Bedarfe formulieren, die die NGOs erfüllen).
Ich möchte meine Kritik nicht als das plumpe „die NGOs sind alle nur dazu da, damit sich Leute bereichern können“*, das jetzt vielfach wieder zu lesen ist, verstanden wissen. Vielmehr glaube ich nach wie vor fest daran, dass es sich bei NGOs grundsätzlich um wichtige und sinnvolle Organisationen der Zivilgesellschaft handelt.
Mit zunehmender Größe und Professionalisierung des gesamten Sektors sind aber auch entsprechende Probleme deutlich geworden, die klar benannt werden müssen. Spätestens jetzt ist es an der Zeit, ehrlich damit umzugehen, dass die bestehenden Verhältnisse der Macht- und Ressourcenungleichheit nur geändert werden können, wenn sich dies auch in der Kultur derjenigen Organisationen reflektiert, die den Anspruch vertreten, für eine solche bessere Welt einzutreten.
* Beispiel für solche nutzlose Pauschalkritik sind die ersten Reaktionen, auf meine drei Tweets vom heutigen Nachmittag zum gleichen Thema verfasst hatte.