Afrika, Unterwegs
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Innehalten und Erinnern: Genozid-Gedenkstätten in Ruanda

Fenster in der Genozid-Gedenkstätte Gisozi

Der folgende Beitrag ist die Überarbeitung eines Textes von 2008, der während einer Reise durch Ruanda entstand. Ich hatte vor Kurzem über die Gacaca-Justiz in Ruanda geschrieben und wurde beim Schreiben an meine eigenen Eindrücke erinnert, als Ergänzung um eine persönliche Perspektive daher die unten stehende Veröffentlichung.

Ein Hinweis vor dem Lesen: Es geht um das Thema Tod und es werden explizite Bilder beschrieben, nicht jedeR möchte sich dem möglicherweise aussetzen, daher sei hiermit davor gewarnt.

Wer sich mit Ruanda beschäftigt, kommt nicht um den Genozid herum. Vor Ort kann man ihm auch nicht entgehen. Überall entlang der Landstraßen begegnen einem die rosa gekleideten Sträflingskolonnen. Viele von ihnen sind Völkermordverbrechen bezichtigt und sie müssen zum Beispiel im Straßenbau oder der Landschaftspflege arbeiten.

Es gibt mehrere Gedenkstätten im Land, etwa die zentrale Gisozi Genocide Memorial Site in Kigali, ein Museum, das mittels einer Multimedia-Ausstellung die Geschichte des Genozids in Ruanda darstellt und daneben Genozide weltweit thematisiert.

Auch außerhalb Kigalis erinnern einige Orte an die grausamen Ereignisse des Jahres 1995, zum Beispiel die Kirche in Nyamata. Über 5.000 Menschen hatten in dem kleinen Steingebäude Schutz gesucht. Dicht aneinander gedrängt und in Todesangst müssen sie hier ausgeharrt haben, bevor sich ihre Mörder Zutritt zur Kirche verschaffen und mit einem zwei Tage andauernden Massaker beginnen konnten. Zum Schluss warfen sie Granaten, damit auch kein Mensch überleben sollte. Von den Granatsplittern geschlagene Löcher sind bis heute in den Wänden und der Decke sichtbar.

Auf den Kirchenbänken und rund um den Altar liegen die Kleidungsstücke der Getöteten, Hosen, Blusen, Röcke, Hemden, Pullover, in allen Größen und Farben. Hinter der Kirche gibt es mehrere unterirdische Grabkammern. Hier liegen die Knochen und Schädel von 45.000 Toten. Durch ein enges Fenster kann man in die Gruft hinabsteigen und an Regalen mit Gebeinen entlang gehen, Schädel aller Größen vom Kleinkind bis zum Erwachsenen sind dort aufgebahrt, einige haben Löcher von Macheten.

Zum Eindringlichsten, was ich je erlebt habe, gehört der Besuch der Gedenkstätte Murambi. Diese ehemalige Berufsschule diente 30.000 Menschen als Zufluchtsort während des Völkermordes. Heute sind 2.000 Tote in den 24 ehemaligen Klassenräumen aufgebahrt und es gibt ein Massengrab auf dem Gelände.

Die Gedenkstätte ist etwas abseits einer Hauptstraße gelegen, vielleicht 3 Kilometer. Vier sich hier zufällig begegnende Besucherinnen, zwei Deutsche, zwei Amerikanerinnen, treffen sich in der neu errichteten lichten Eingangshalle der Gedenkstätte, etwas abseits von den früheren Schulgebäuden gelegen.

Niemand spricht etwas und zunächst ist kein Mensch zu sehen. Plötzlich steht ein junger Mann in der Tür und sagt leise: „Come.“ Er geht voran zu dem aus mehreren Gebäuden bestehenden Schulkomplex. Jedes Gebäude besteht aus sechs Räumen, die jeweils von einer Veranda abgehen. Der junge Mann schließt wortlos alle sechs Türen des ersten Gebäudes auf.

In allen Räumen sind mumifizierte, von Kalk weiße Leichen aller Altersstufen nebeneinander auf Holzgestellen aufgebahrt. An manchen Wänden sind noch Blutspritzer zu sehen. Vereinzelt liegen Plastikblumen zwischen den Toten; über allem ein leicht süßlicher Geruch. Angesichts dieses Anblicks fühlen wir alle große Beklemmung. Es herrscht Stille bis auf das Knacken des sich in der heißen Sonne ausdehnenden Wellblechdaches. Die Fenster sind mit Plastikplanen verhängt. Nach dem Verlassen eines Raumes schließt der junge Mann hinter uns ab. Was für ein schrecklicher Ort, um hier jeden Tag zu sein.

In manchen Räumen liegen vorwiegend Kinder: Babys, Kleinkinder, Kinder im Grundschulalter. Draußen die Schreie junger Ziegen, sie klingen wie Kinderweinen. Was haben wohl die Menschen in den umliegenden Häusern, Dörfern, Hügeln während des Massakers gehört? Waren dort überhaupt noch Menschen in jenen Tagen?

Aus jedem Raum erneut auf die Veranda kommend, fällt der Blick auf die umliegenden grünen Hügel, welch ein Kontrast. Es fällt mir schwer, das Gesehene zu erfassen, noch nie habe ich einen toten Menschen gesehen und nun gleich so viele auf einmal. Viele Schädel sind eingeschlagen, zertrümmert, haben Löcher, viele Körper sind grotesk verdreht. Sie sind alle anonym und wirken in gewisser Weise entmenschlicht, weil sie weiß sind, geschrumpft, mumifiziert. Doch bei vielen erkennt man noch die Gesichtszüge, manche Münder schreien, viele Schädel haben noch Haare, manche Körper sind bekleidet.

Der junge Mann geht weiter zum zweiten Gebäudekomplex. Noch mehr Tote sind dort aufgebahrt. Nach dem Verlassen des zwölften Raumes steht plötzlich ein älterer Mann vor dem Gebäude und fragt „You have seen enough, have you?“. Später erzählt er, dass er seit zehn Jahren hier arbeitet. Er weiß um die Wirkung der Toten auf die Lebenden und übernimmt nun den Abschluss der Führung. Bringt uns in einen Raum, in dem nur einzelne Gebeine und Schädel liegen, in eine Halle, in der in den Fächern vieler Regale die Kleider der Toten aufbewahrt werden, und schließlich, vorbei an einem Massengrab, zurück zur Eingangshalle, wo eine Spende geleistet und ein Eintrag in das Gästebuch vorgenommen werden kann.

Den Rückweg zur Hauptstraße gehen wir, die uns hier zufällig getroffen haben, zu Fuß. Viele Menschen sind unterwegs, die meisten, die uns entgegenkommen, grüßen uns, die Kinder fragen nach Süßigkeiten oder Geld, ein Junge schüttelt uns die Hände und sagt: „I want to greet you.“ Ein kleines Mädchen begleitet uns ein Stück und nimmt uns dabei abwechselnd an der Hand. Man merkt, wie dicht besiedelt das Land ist, überall Menschen, jedes Stück Land ist bebaut oder kultiviert.

2012

Beim Lesen und Überarbeiten des Textes kommen die Erinnerungen an das Erlebte zurück und ich frage mich, wie schon damals vor Ort, wie eine Gesellschaft solche unglaublichen Ereignisse aushalten kann. Eine Frage, die in meiner eigenen Gesellschaft auch von zentraler Bedeutung ist (obwohl von vielen geleugnet). Und in der Tat findet jede Gesellschaft Wege, mit den schlimmsten Ereignissen zurecht zu kommen, was jedoch auch immer bedeutet, dass bestimmte Geschichten nicht erzählt werden und die Bedürfnisse vieler Menschen nicht berücksichtigt (werden).

Ich halte Gedenkstätten daher für wichtige Einrichtungen nicht nur zum Zweck der Erinnerung sondern auch als Anregung der Selbstreflektion aller BesucherInnen. Man kann niemanden zwingen, sich mit den dargestellten Ereignissen auseinanderzusetzen, aber doch halte ich es für wichtig, immer wieder Blicke in die Abgründe der Menschheit zu werfen, da diese Abgründe überall lauern.

Die Frage „was hätte ich getan“, sollte sich jedeR immer wieder stellen – auch wenn man sie natürlich niemals wirklich beantworten kann. Sie es auch eine Warnung. Eine Warnung und Mahnung davor, dass das, was wir sehen, in uns allen angelegt ist, ganz unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, Klasse, und anderem.

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