Seit etwa zehn Jahren rückt der menschenrechtsbasierte Ansatz (im Folgenden MA; engl. rights-based approach) immer stärker in den Fokus der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Handelt es sich dabei nur um eine weitere sperrige Worthülse der an diesen nicht gerade armen EZ oder verbirgt sich auch Substanz dahinter?
Der MA basiert auf den internationalen Menschenrechtsinstrumenten, etwa der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, und zielt auf die Förderung und den Schutz von Menschenrechten. Aus der MA-Perspektive betrachtet sind Ungleichheit und „Unterentwicklung“ nicht bloße Folge von Armut sondern die Auswirkungen tiefergehender struktureller Probleme, wozu auch ungleiche oder unausgewogene Machtverteilung und Diskriminierung bestimmte Bevölkerungsgruppen gehört. Der MA geht also darin über die bisherige Praxis hinaus, dass nicht nur Bedürfnisse erfüllt, sondern strukturelle Ursachen (Menschenrechtsverletzungen) hinterfragt, aufgedeckt und angegangen werden.
Der klassische Entwicklungsansatz ist immer noch geprägt vom den Rollen der „Geber_innen“ und „Empfänger_innen“: Entwicklungsorganisationen setzen sich für „die Armen“ ein, d.h. geben ihnen etwas (Bauprojekte, Beratungsdienstleistungen, medizinische Versorgung) wodurch die Armut gelindert werden soll. Die EZ setzt zwar zunehmend auch auf allen Ebenen an und versucht, auch die „Graswurzelebene“ miteinzubeziehen, aber erst der MA rückt die Rechte der Empfänger_innen in den Vordergrund: Menschen in Entwicklungsländern sind Rechteinhaber_innen, die Rechte auf Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse aber auch auf Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und politischer Mitbestimmung haben.
Sie sind also nicht mehr bloße Empfänger_innen von Hilfsleistungen, sondern Anspruchsberechtigte und Rechtsträger_innen (rights holders) gegenüber staatlichen Institutionen, die nun als Pflichtträger (duty bearers) gesehen werden und nicht nur als Dienstleister.
Ziel des MA ist es also, Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Rechte zu kennen und sie einfordern zu können. Gleichzeitig liegt der Fokus auch darauf, staatliche und weitere Institutionen dafür zu sensibilisieren, dass es diese Rechte gibt und sie diese Rechte umsetzen müssen. Eine ausführliche und verständliche Darstellung des MA gibt es beim Deutschen Institut für Menschenrechte.
Der Menschenrechtsansatz in der Praxis
Was heißt das in der Praxis? Wo früher etwa festgestellt wurde „hier gibt es keine Schule, also bauen wir eine“, muss vor dem Bauen eine Analyse zusammen mit allen Beteiligten erstellt werden: Kinder haben das Recht auf Bildung und müssen daher die Möglichkeit haben, eine Schule zu besuchen. Der Staat und seine Behörden müssen in die Pflicht genommen werden und Kinder und ihre Familien müssen dazu befragt werden, wie ein solches Vorhaben aus ihrer Sicht am besten umgesetzt werden kann. Auch sollten sie dabei unterstützt werden, sich mit ihren Anliegen direkt an die zuständigen Behörden zu wenden.
Schließlich ist auch ganz wichtig darauf zu achten, wie Diskriminierung vermieden werden kann. Gibt es z.B. Kinder, die die Unterrichtssprache nicht sprechen und muss der dann Unterricht dahingehend angepasst werden? Werden bestimmte Gruppen vom Unterricht ausgeschlossen? Wenn ja, was sind die Ursachen und wie können sie angegangen werden? Auch sollten Schulen immer barrierefrei sein und nach Geschlechtern getrennte sanitäre Anlagen besitzen.
Das klingt trocken und theoretisch, ist aber wichtig, nicht zuletzt auch für den Umgang von Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit miteinander. Galten die „Armen“ meist als passive Leistungsempfänger-innen (auch heute noch ist sehr oft die Rede von „beneficiaries“), so werden sie von der MA-Perspektive aus immer mehr als PartnerInnen gesehen, denen Rechte zustehen, die es einzufordern gilt.
Der MA rückt außerdem vor allem die am meisten benachteiligten Menschen ins Zentrum, zum Beispiel Angehörige von Minderheiten, Menschen mit Behinderungen oder Kinder und Jugendliche, also alles Menschen, deren Stimmen im gesellschaftlichen Alltag noch weniger gehört werden als andere.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) eine Reihe mit „Promising Practices“, mit vielversprechenden Projektansätzen herausgegeben, die zahlreiche Beispiele für eine menschenrechtsbasierte Entwicklungszusammenarbeit aufzeigt.
Ein Beispiel: Wasserversorgung in Kenia
Auf der Grundlage des MA führte das kenianische Ministerium für Wasser und Bewässerung eine Richtlinie ein, wonach das menschliche Grundrecht auf Wasser oberstes Prinzip aller Aktivitäten ist. Daran müssen auch alle Maßnahmen der EZ im Lande ausgerichtet sein.
Das geschieht nicht ohne Probleme, so musste etwa der Vorbehalt ausgeräumt werden, ein solcher Ansatz bedeute, dass nun alle Menschen Anspruch auf eine kostenlose Wasserversorgung haben. Was aber schon sein soll ist, dass eine stärkere Ausrichtung hin auf die Bedürfnisse sehr armer Menschen stattfinden muss. So können z.B. private Anbieter nun nicht mehr vorwiegend von Armen bewohnte Gegenden unversorgt lassen und müssen auch hier für den Ausbau von Versorgungssystemen sorgen.
Inzwischen enthält sogar die kenianische Verfassung das Recht auf Wasser und Abwasserentsorgung. Das Ganze ist natürlich ein langer Prozess und noch weit von der Vollendung entfernt, wie überall müssen sich bei allen Beteiligten Einstellungen und eingeschliffene Abläufe ändern. Aber wie so oft ist es auch hier der stete Tropfen, der die Veränderung bringen kann.
Der MA in der Praxis: Anspruch und Realität
Der MA bedeutet nicht, dass nun alles für alle kostenlos sein muss. Vielmehr steht er dafür, dass der Staat die Pflicht hat, zu gewährleisten, dass alle Menschen Zugang zu Diensten wie Bildungsangeboten, Gesundheitsversorgung, etc. haben, dass sie sich diese als leisten können müssen. Das bedeutet auch, dass die Menschen die Möglichkeit haben müssen, jene Mittel verfügbar zu haben, mit denen sie diesen Zugang erhalten können. Also z.B. angemessen für landwirtschaftliche Produkte oder Lohnarbeit bezahlt werden oder überhaupt die Möglichkeit haben, Einkommen zu erwirtschaften.
Was den MA so bedeutend macht ist vor allem die damit verbundene Sichtweise auf die Menschen. „Die Armen“ gelten nicht länger als passive Hilfsempfänger_innen, denen etwas vorgesetzt wird, sondern sie sind Träger_innen von Rechten, bei deren Einforderung sie unterstützt werden. Was so schön in der Theorie klingt, ist in der Praxis noch lange nicht umgesetzt, aber die Tendenz ist da und der Weg wird auch hoffentlich weiter in diese Richtung beschritten.
Wie oben erwähnt, setzt der MA voraus, dass sich alle Beteiligten ihrer Rolle bewusst sind und sie vertreten können (und wollen); sowohl Rechteinhaber_innen als auch Pflichtträger_innen. Das ist schwierig und setzt einen langen Prozess des Bewusstseinswandels voraus – was wohl eher Jahrzehnte als Jahre dauern wird. Dennoch ist es ein konsequenter und ein moralisch richtiger Ansatz, denn er nimmt die Menschen ernst und erkennt an, dass alle gleich sind.
Auf lange Sicht ist es wünschenswert, dass die EZ lernt, dass alle Menschen gleich ernst genommen werden müssen und dass sich nicht nur die Partner_innen ändern müssen, sondern auch die Konzepte und Methoden, mit denen wir arbeiten und zusammen arbeiten.
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