Einmal im Monat unterhalten sich unter dem Titel “Der Austausch” Claire und Charlott über ein Thema. Dabei bringen wir verschiedene Kenntnisse, Meinungen und Erfahrungen zusammen. Gleich aber ist unser Interesse für Afrika. Vorschläge für Themen können auch gern in den Kommentaren gemacht werden.
Diesen Monat geht es um das Thema Kindheit: Wir sprechen über die Schwierigkeit, Kindheit überhaupt zu definieren. Claire klärt über Kinderrechte auf und Charlott erzählt über den Umgang mit Kindersoldat_innen in Romanen afrikanischer Autor_innen.
Charlott: Was bedeutet für dich Kindheit?
Claire: Meine erste Assoziation ist die von der „glücklichen Kindheit“, also sich um existenzielle Dinge keine Gedanken machen müssen, das Leben vor sich zu haben, viel Neues entdecken zu können. Das entspricht ja dem Ideal unserer Gesellschaft, Kinder behütet aufwachsen zu lassen, sie lange von schlechten Einflüssen fernzuhalten und sie beschützen zu wollen. Vermutlich würde ich mir das für meine eigenen Kinder auch wünschen.
Es gibt ja die menschliche Tendenz zu denken, dass gewisse Dinge „schon ewig“ so seien wie sie sind. Die „glückliche Kindheit“ ist so eine Annahme. Bis vor relativ kurzer Zeit waren z.B. Kinderarbeit oder Schläge in der Schule in Deutschland noch üblich. Und erschreckend viele Kinder in Deutschland leben in Armut, ich denke da z.B. auch an das Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz, das ja auch viele Kinder betrifft.
Durch mein Ethnologiestudium und meine Arbeit in der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) beschäftige ich mich seit langem auch mit dem Konzept Kindheit in anderen Gesellschaften. Interessant finde ich z.B., dass „Kindheit“ zwar weltweit legal altersmäßig definiert ist, von 0-18 Jahren, manchmal bis 21 Jahre, aber in vielen afrikanischen Ländern etwa gelten Menschen bis über Dreißig u.U. als „Kinder“ oder „Jugendliche“. (Habe ich auch aus lateinamerikanischen Ländern gehört, in diesem Kontext habe ich aber wenig Erfahrung.)
Kürzlich habe ich z.B. über ein Projekt in Kenia gelesen, in dem Jugendliche lernten, mittels Videofilmen auf Probleme in ihrem Umfeld aufmerksam zu machen und für sie geeignete Lösungsansätze zu erarbeiten. Da gab es einen Teilnehmer, der bereits 35 Jahre alt war, aber von der ihn entsendenden Organisation offenbar als Jugendlicher gesehen wurde.
Andererseits werden Mädchen, die sehr jung Kinder bekommen, bereits als Erwachsene behandelt. In Tansania habe ich mit so einigen Teenager-Müttern gesprochen, die ihre Schulausbildung abbrechen mussten oder nicht auf eine weiterführende Schule gehen konnten, weil jetzt von ihnen erwartet wurde, dass sie Geld verdienen oder im Haushalt ihrer Familie helfen. Mit Kind galten sie dann schnell als Erwachsene, auch mit 14, 15 Jahren.
Ich würde also sagen, Kindheit ist eine soziale Zuschreibung, die von Gesellschaft zu Gesellschaft variiert, nicht einfach die Zeit von der Geburt bis zum Erwachsenenalter, sie beginnt mit der Geburt, aber ihr Ende ist nicht nur legal sondern auch durch soziale und wirtschaftliche Faktoren bestimmt.
Was bedeutet denn für dich Kindheit?
Charlott: Die Frage ist natürlich schwierig zu beantworten, denn zuerst erscheinen einer_m doch Bilder im Kopf, die mit der eigenen Kindheit verbunden sind. Also ganz persönliche Dinge.
Prinzipiell ist mir aber besonders wichtig auf die Konstruiertheit des Konzepts hinzuweisen, was du ja auch schon erwähnt hast. Kindheit ist eben nichts fixes, nichts unveränderliches, sondern etwas was je nach Ort und Zeit vollkommen unterschiedlich aufgefasst und konzeptionalisiert wird. Oder eben auch auch gar nicht konzeptionalisiert wird. Ein weiterer Punkt, der in deinen Ausführung ja auch schon implizit steckt, ist, dass Kindheit je nach Geschlechts- Zuschreibung ganz anders ausgeformt sein kann. Auch spielt der ökonomische Rahmen eine wichtige Rolle.
Also prinzipiell ist Kindheit so allgemein erstmal gar nichts. Spezifisch dann aber das Konzept, welches umfasst, wie in einer bestimmten Gesellschaft junge Menschen und ihre Lebenswelt gesehen wird.
Du hast dich ja viel mit Kinderrechten auseinandergesetzt, wie kam es dazu?
Claire: Das kam dadurch, dass ich einige Jahre lang für eine Kinderrechtsorganisation gearbeitet habe. Das Thema „Kinder“ oder „Kinderrechte“ war zu Beginn gar nicht mal ausschlaggebend, eher mein generelles Interesse an der EZ. Mit der Zeit habe ich mich dann immer mehr damit beschäftigt und finde es mittlerweile ein sehr spannendes Thema. Ich beschäftige mich seit Schulzeiten schon mit Menschenrechten, irgendwie fiel das dann auch zusammen. Und ich finde es spannend, dass hier ein Thema gerade dabei ist, von einem Nischen- zu einem immer prominenteren Thema zu werden und weil es da viele spannende Ansätze gibt, auch mit Medien, wie Radio, Theater, Video, usw., also viel Kreatives, in das die Kinder gut einbezogen werden können.
Charlott: Was unterscheidet Kinderrechte von Menschenrechten?
Claire: Menschenrechte gelten auch für Kinder. Was die Kinderrechte besonders macht ist, dass sie in einer separaten Konvention niedergeschrieben sind, die 1989 von der UN-Vollversammlung verabschiedet wurde (anders als die Menschenrechtscharta von 1949).
Die Kinderrechte berücksichtigen, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind; sie tragen ja keine Verantwortung gegenüber Schutzbefohlenen sondern benötigen ihrerseits Erwachsene dazu, sich für ihre Rechte einzusetzen. Das verlangt von Erwachsenen wiederum, immer im Sinne des Kindeswohls zu handeln und nicht nach eigenen Interessen (ich denke hier z.B. an Sorgerechtsfragen, was allerdings auch eine sehr komplexe Sache ist).
Du hast Deine Masterarbeit über Romane afrikanischer Autor_innen geschrieben, die sich mit Kindersoldat_Innen befasst haben. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu unserer europäisch-westlichen Vorstellung von Kindheit sind dir dabei aufgefallen?
Charlott: Den Begriff Kindersoldat_innen in Bezug auf die Bücher habe ich überings nie benutzt, sondern den regional in Westafrika verbreiteten Begriff small soldier. Warum? Ich finde diese regionale Verankerung des Begriffs gut und dass er auch sehr deutlich macht, wo Kindersoldat_innen in der Hierarchie stehen. In einem meiner einleitenden Kapitel, war es mir aber auch wichtig herauszustellen, dass Kindersoldat_innen weder ein neues noch ein afrikanisches Phänomen sind, denn die gewöhnliche Berichterstattung lässt ja eher das Gegenteil vermuten.
Dahlmann hat im Jahr 2000 mit dem Sammelband „Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution. Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Kindersoldaten Afrikas“ den Blick in die Geschichte geworfen und Kinder und Jugendliche in verschiedenen Kriegen und Konflikten als Opfer und Täter entdeckt. So schreibt er: „In der Mexikanischen Revolution der 1910er Jahre begegnet uns der Kindersoldat, ein acht bis sechzehn Jahre alter Junge mit einem sehr alten Gesicht, ein Gewehr über der Schulter, eine Zigarette im Mundwinkel.“ (S. XI)
In den von mir betrachteten Romanen wird so natürlich eine sehr spezifische Kindheitserfahrung gezeigt. Dabei ist aber allen Büchern (auch anderen die ich zu dem Thema kenne) eigentlich gleich, dass sie sich nicht hinstellen und suggerieren: “Hey, das Kinder kämpfen ist doch total super!”. Viel eher wird halt die (vermeintliche) Besonderheiten von kindlichen Protagonist_innen wie z.B. eine bestimmte Weltsicht oder Fähigkeit die Erfahrungen einzuschätzen auch genutzt, um z.B. Krieg an sich zu kritisieren.
Claire: Wie haben denn in den Büchern, mit denen Du Dich für die Masterarbeit beschäftigt hast, die erwachsenen Charaktere über Kinder gedacht und sie behandelt?
Charlott: Viele der Romane, die sich mit small soldiers beschäfftigen sind interessanterweise so geschrieben, dass der small soldier (als Hauptfiguren leider wirklich immer Jungs, was die Unsichtbarkeit von weiblichen Geschichten fortschreibt) die Erzählstimme ist. Als Leser_in erfährt mensch also kaum direkt, was Erwachsene denken. Eine Ausnahme ist da der Roman Moses, Citizen & Me. Die Geschichte wird aus der Perspektive der erwachsenen Julia erzählt, die sich dem gerade einmal achtjährigen ehemaligen small soldier annährt. Spannend finde ich dabei, dass sie dies vor allem durch erträumte phantastische Begegnungen tut und vor allem beobachtet.
Allgemein erfahren die kindlichen Protagonist_innen durch die Erwachsenen (vor allem natürlich Männer*) in den Romanen auch sehr viel Gewalt.
Wirklich interessant ist das Ende von Beasts of No Nation (Uzodinma Iweala). Dort trifft der Protagonist und Erzähler Agu auf die Amerikanerin Amy, die ihn in einem Auffanglager betreut. Agu sagt: “She is telling me to speak speak speak and thinking that my not speaking is because I am like baby. If she is thinking I am baby, then I am not speaking because baby is not knowing how to speak. But everytime I am sitting with her I am thinking I am like old man and she is like small girl because I am fighting in war and she is not even knowing what war is.”* Damit kommen wir doch auch wieder zur Konstruktion von Kindheit, welche sich natürlich in der Literatur besonders gut aufzeigen lässt. Nach Agu sind es also vor allem auch Erfahrungen und Umstände, die den Status ausmachen.
*Übersetzung: “Sie sagt mir, dass ich sprechen sprechen sprechen soll und denkt, dass mein Nicht-Sprechen zeigt, dass ich wie ein Baby bin. Wenn sie denkt, dass ich wie ein Baby bin, dann spreche ich nicht, denn Babys wissen nicht, wie man spricht. Aber immer, wenn ich mit ihr zusammensitze, denke ich, ich bin wie ein alter Mann und sie ist wie ein kleines Mädchen, weil ich kämpfe im Krieg und sie weiß nicht einmal, was Krieg ist.”