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Das Recht auf Bildung jenseits des Schulhauses: Welche Art des Unterrichts für nomadisch lebende Kinder?

Maasai in Tansania (Foto: C.Grauer)

Alle Kinder haben das Recht auf Bildung. Nicht alle Kinder können aber am „klassischen“ Bildungssystem teilhaben, das herkömmlicherweise aus einer ortsgebundenen Schule (reicht von „Schule unter dem Mangobaum“ bis zum großen Gebäudekomplex mit Mensa und Turnhalle) mit Lehrerin oder Lehrer besteht.

Mobile Menschen weltweit

Menschen, die nomadisch lebenden Gesellschaften, sogenannten Pastoralisten (Viehnomaden), angehören, sind mit ihren Familien für Teile eines Jahres oder fortwährend unterwegs, in Abhängigkeit davon, wo Tiere Nahrung finden und sie temporär bleiben können. Es gibt daher schon lange Überlegungen, wie Kindern aus diesen Gruppen ermöglicht werden kann, am Bildungssystem teilzuhaben.

Viele Regierungen in Ländern des Südens blickten lange Zeit skeptisch auf Nomaden und verfolgten das Ziel, sie möglichst zur Sesshaftigkeit zu bewegen  und zum Teil ist dieses Misstrauen immer noch vorhanden. (Ähnlich skeptisch werden  bis heute übrigens auch in Europa Gruppen wie die travellers in Irland und Großbritannien behandelt).

Nomadisch lebende Gruppen lassen sich schlechter kontrollieren als Sesshafte. Zudem leben viele von ihnen in Grenzgebieten und pflegen Beziehungen zu Gruppen über Staatsgrenzen hinweg, etwa die Somali, die zwischen Somalia, Äthiopien und Kenia migrieren, die Maasai, die zwischen Kenia und Tansania unterwegs sind oder die Tuareg, unterwegs in vielen saharanischen Staaten.

Zudem fürchten viele Regierungen, so habe ich es in Tansania öfters gehört, dass Nomaden aufgrund ihrer „Rückständigkeit“ ein schlechtes Bild auf das jeweilige werfen. Daher gab es lange keine kindgerechten und kulturspezifischen Bildungsangebote für Kinder aus Nomadengruppen. Entweder fielen die Kinder durchs Raster und konnten gar nicht zur Schule gehen, oder aber es wurden Internate eingerichtet, in denen die Kinder weit weg von ihren Familien lebten und Dinge lernten, die sie vollkommen vom Lebensstil ihrer Eltern entfremdeten.

Die Internatslösung: Funktioniert nur mit viel Geld und relevanten Inhalten

Nicht nur in afrikanischen, auch in asiatischen Ländern gibt es viele nomadisch lebende Gruppen. Die Mongolei etwa hat eine lange nomadische Tradition und hier bestand bis 1990 ein funktionierendes Internatssystem für Kinder aus Nomadenfamilien (Steiner-Khamisi und Stolpe 2005). Dieses war aufgrund mehrerer Faktoren erfolgreich und wurde daher von Nomadenfamilien akzeptiert:

  • Es konnte an eine mehrere Jahrhunderte alte Tradition buddhistischer klösterlicher Erziehung anknüpfen.
  • Es stellte Kinder und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt (Geschwister- und Nachbarskinder teilten sich Zimmer).
  • Es war auf die nomadische Lebensweise abgestimmt; das Schuljahr richtete sich nach der jeweiligen Saison mit flexiblen Ferienzeiten und die Lehrpläne enthielten praxisbezogene Inhalte, die auch für das nomadische Leben relevant waren.
  • Der mongolische Staat war bereit, das dafür notwendige (viele) Geld zu investieren.

In der postsowjetischen Ära brach das System zusammen. Heute, wo es an Investitionen fehlt, besuchen nur noch die Kinder sehr armer Familien diese Internate; Kinder wohlhabenderer Familien leben mit einem Familienmitglied während des Schuljahres in einem größeren Ort und besuchen dort die Schule. 

In vielen afrikanischen Ländern gibt es generell zu wenig Investitionen in die Bildungssysteme; Kinder, die Internate besuchen, müssen für Essen, Unterkunft und Reisekosten bezahlen, was sich ihre Familien oft nicht leisten können (Osman 2009).

Mobile Schulen

Der Ansatz der „mobilen Schulen“ wird in verschiedenen Ländern schon lange erprobt. Die Idee dahinter ist, dass Lehrkraft und Schule den nomadisch lebenden Kindern während ihrer saisonalen Migration folgen. Unterricht findet dann in Zelten, einfachen Strohhütten oder im Freien statt, hier ein Beispiel aus Kenia.

Nicht immer ist dieser Ansatz erfolgreich, etwa dann, wenn Nomadenfamilien sich weit voneinander entfernt aufhalten, anstatt in größeren Gruppen zu leben, sodass Kinder zu weite Wege zurücklegen müssten um regelmäßig zum Unterricht kommen zu können. Auch verlangt der Ansatz eine hohe Flexibilität von Lehrer_innen. Schließlich ist es für Behörden schwierig, die mobilen Schulen zu unterstützen und zu überwachen und somit ihre Qualität zu gewährleisten.

Alternative Ansätze: Koranschulen, Fernunterricht, Alternative Grundbildung 

In den letzten Jahren sind einige neuere Ansätze entstanden, die nomadisch lebenden Kindern ermöglichen sollen, zumindest einen ersten Schulabschluss zu erlangen und, wenn möglich, ihre formale Bildung auch weiter fortzusetzen.

Koranschulen: In Somaliland wird seit einigen Jahren das Integrated Quranic Schools Project in Somalia (IQSP) durchgeführt. Fast alle Kinder muslimischer Somali besuchen eine Koranschule, deren Dichte wesentlich höher ist als die staatlicher Grundschulen. Daher wurde der Ansatz entwickelt, dass Koranlehrer zu Grundschullehrern weitergebildet werden und der formale Grundschullehrplan in den Koranunterricht integriert wird.

Die Projektdokumentation spricht von ersten Erfolgen, Kritiker betonen jedoch, dass religiöse und staatliche Bildung zwei verschiedene Dinge sind. Insbesondere könnte die Motivation der Eltern, ihre Kinder in die Koranschule zu schicken, in erster Linie spirituelle Gründe haben, wohingegen die formale Bildung eher funktionale Motivation habe (Krätli 2001: 31).

Fernunterricht: In Australien schon lange etabliert, ist der Fernunterricht in ressourcenarmen Ländern schwieriger zu organisieren.  Oft fehlt es an der notwendigen Technik inklusive des notwendigen Stroms. Radio ist mittlerweile jedoch in weiten Teilen Afrikas das am weitest verbreitete Kommunikationsmittel und es gibt zahlreiche Ansätze, es auch für Bildungsprogramme zu nutzen.

Ein Beispiel ist das Somali Interactive Radio Reconstruction Program (SIRIP), das mit bestehenden Strukturen wie Koranschulen kooperiert, aber auch neue Bildungszentren einrichtet, in denen sich Lernende treffen und mit Lehrpersonal austauschen können. Neben Grundlagen in Lesen, Schreiben und Rechnen lernen Kinder auch Konfliktvermeidungs- und Mediationsstrategien und es werden Programme zur Lehrer_innenfortbildung gesendet.

Alternative Grundbildung: Dieser Ansatz wurde z.B. im Programm Alternative Basic Education for Karamoja (ABEK) ausführlich dokumentiert. Es handelt sich um einen kulturell sensiblen und flexiblen Ansatz, der die Lebensrealität der Nomadisch lebenden Familien berücksichtigt, etwa indem

  • Unterricht zu Zeiten abgehalten wird, an denen keine Arbeit mit den Herden notwendig ist (am späten Vormittag oder nach Einbruch der Dunkelheit);
  • Eltern jederzeit am Unterricht der Kinder teilnehmen können;
  • Gemeinden selbst bestimmen können, wer sich als Lehrer_in ausbilden lassen und dann unterrichten soll.

Nach einigen Jahren in einer solchen ABEK-Schule ist es für die Kinder möglich, zu einer formellen Grund- oder weiterführenden Schule zu wechseln. Auch hier gibt es Schwierigkeiten, etwa, wenn einzelne Familien oder Gruppen migrieren und Kinder dann nicht mehr regelmäßig die nächste „Schule“ erreichen können. Auch sind die Lehrer_innen zwar mit den lokalen Gegebenheiten vertraut und oft Mitglieder der betreffenden Gruppen, aber meist gering qualifiziert. Viele von ihnen werden nach einiger Praxiserfahrung von besser zahlenden NGOs abgeworben (Dennis und Fentiman 2007: 52).

Fazit: Welche Schule ist die beste?

Vermutlich wird es noch lange dauern, bis wirklich alle Kinder weltweit ihr Recht auf Bildung wahrnehmen können und das in den Millenniumsentwicklungszielen formulierte Recht auf Primarschulbildung für alle (Ziel 2) wirklich umgesetzt worden ist.

Bei weltweit geschätzten 200 Millionen nomadisch lebender Familien alleine in Afrika (Dyer 2010: 63) ist es aber wichtig, nach kulturell sensiblen und praktikablen Ansätzen zu suchen, wie man allen Kindern den Zugang zu Bildung ermöglichen kann. Das sollte möglichst nicht dadurch geschehen, indem hier und da geflickt und hinzugefügt wird, sondern durch eine umfassende Reform von Bildungssystemen, die flexibler werden müssen, um auf die Anforderungen verschiedener Gruppen (auch anderer Bevölkerungsminderheiten und weiterer marginalisierter Gruppen) reagieren zu können.

Quellen

Dennis, Caroline and Fentiman, Alicia 2007. Alternative Basic Education in African Countries Emerging from Conflict; Issues of Policy, Co-ordination and Access. DFID Educational Papers. London: DFID. 15 July 2012 (PDF)

Dyer, Caroline 2010. Including pastoralists in Education for All. Commonwealth Education Partnerships 2010. 16 July 2012 (PDF)

Krätli, Saverio 2001b. Education Provision to Nomadic Pastoralists. A Literature Review. IDS Working Paper 126. Brighton: IDS. 15 July 2012 (PDF)

Osman, Amina 2009. Case Study: Challenges in policy and practice: Pastoralists and Nomadic Peoples. In: State oft he World’s Minorities and Indigenous Peoples 2009. . London, UK: Minority Rights Group International. 15 July 2012 (PDF)

Steiner-Khamisi, Gita and Ines Stolpe 2005. Non-traveling ‘Best Practices’ for a Traveling Population: the case of nomadic education in Mongolia. European Education Research Journal 4(1): 22-35.

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