Durch Zufall bin ich auf dieses lesenswerte Buch gestoßen. Immer wieder berichten die deutschsprachigen Medien über „die Roma“ oder „Sinti und Roma“ und bedienen dabei zumeist jede Menge Klischees. Viele KritikerInnen der Vergabe des Friedensnobelpreises an die EU verwiesen in diesem Zusammenhang auf den Umgang der EU-Mitgliedsstaaten mit den Roma, der gekennzeichnet ist von Diskriminierung und Unverständnis. Interessant ist das Buch auch in Bezug auf die Frage, inwieweit Armut mit ethnischen Faktoren zusammenhängt – oder eben nicht.
Die „Roma“ und das angebliche „Roma-Problem“
Norbert Mappes-Niediek, seit langem tätig als Balkan-Korrespondent, befasst sich in seinem in zugänglicher Sprache geschriebenen Buch daher mit der Frage „Wer oder was sind „die Roma“ und warum bestehen so viele Vorurteile. Der Autor schreibt klar und gut verständlich und es gelingt ihm, mit gängigen Vorurteilen aufzuräumen, ohne dabei oberlehrerhaft zu wirken oder endgültige Urteile zu fällen.
Sehr erhellend seine Analyse der Kategorie „Roma“: Mappes-Niediek stellt dar, warum es schwierig ist, überhaupt von „den Roma“ als uniforme Gruppe zu sprechen und es oft eher die Mehrheitsgesellschaft ist, die diese Kategorie anderen Menschen zuschreibt, ohne dass diese sich zwangsläufig selbst als Roma definieren würden. Vieles, was als „Roma-typisch“ beschrieben wird, könnte genauso gut auch als „Balkan-typisch“ beschrieben werden, die Übergänge sind fließend und einmal mehr werden hier Zuschreibungen von außen gemacht.
Ein zentrales Anliegen des Buches ist die Auseinandersetzung mit der Vorstellung, es gäbe ein „Roma-Problem“. Der Autor entlarvt diese Darstellung als Populismus und zeigt, dass es sich vielmehr um ein Problem von Armut und Ausgrenzung – die genauso andere Gruppen treffen könnten, nur sind sogenannte Roma aufgrund historischer, sozialer und politischer Faktoren überdurchschnittlich oft betroffen. Dies setzt einen Kreislauf in Gang, der zu Leben in Ghettos, fehlendem Zugang zu Bildung und Arbeit und sich immer weiter fortsetzender Armut führt.
Besonders interessant wird das Buch durch die Einbettung aktueller Entwicklungen in ihren historischen Kontext. Kaum bekannt ist zum Beispiel, dass Roma im heutigen Bulgarien bis Mitte des 19. Jahrhunderts meist SklavInnen waren, was bis heute die kollektive Erinnerung der Menschen prägt. Zugleich waren Roma in den bäuerlichen Gesellschaften des Balkans bis ins 20. Jahrhundert hinein vielerorts führend in vielen handwerklichen Technologien wie etwa der Metallverhüttung und -verarbeitung.
Das Aufblühen der „gypsy industry“
Ernüchternd ist die Bilanz des Autors in Bezug auf die „Projektkultur“ oder der „gypsy industry“, geschaffen von Geldgebern wie EU, ihrer Mitgliedsstaaten und anderer Regierungen und Stiftungen. Dieses Phänomen ist aus der Entwicklungszusammenarbeit bestens bekannt: Geldgeber wollen die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen vor Ort unterstützen, doch es gab diese nur in geringer Zahl. Durch die Verfügbarkeit entsprechender Mittel entstehen immer mehr Organisationen, oft Retortenorganisationen, eben die „gypsy industry“, geleitet von wenigen gebildeten Frauen und Männern, die Projekte solchen Inhalts entwickeln, der gerade bei den jeweiligen Gebern en vogue ist (gender mainstreaming, good governance, oder Durchführen von Informationskampagnen, die vor der Einreise in westeuropäische Staaten warnen). Somit haben zwar einige Menschen Arbeit – doch es werden letzlich vor allem solche Themen bearbeitet, die die Geldgeber vorgegeben haben und nicht jene, die die Menschen vor Ort (die auch fast nie nach ihren Bedürfnissen gefragt wurden) als am Dringendsten empfinden.
Alles in allem ein spannendes und wichtiges Buch, das es verdient, von vielen Menschen gelesen zu werden und somit dazu beitragen kann, dass die vielen hartnäckige Stereotype über „die Roma“ allmählich verschwinden.
Weitere Informationen
Hier ein Interview mit dem Autor beim Deutschlandfunk (Audio und Transkript)
taz vom 11.12.2012 über die Ablehnung von Asylverfahren serbischer und mazedonischer Roma im Schnellverfahren – trotz bekannter Diskriminierung in den Herkunftsländern
SWR-Sendung „Planet Wissen“ über „Sinti und Roma in Deutschland“ mit Sängerin Marianne Rosenberg und ihrer Schwester Petra Rosenberg, Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg
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