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Gender und Entwicklung: Mehr als Mädchen und Frauen

Wegweiser zu einer Sekundarschule für Mädchen und Jungen, Tansania (Foto: Claire Grauer)

Schon lange ist eines der vorherrschenden Themen in der EZ die Annahme, dass Mädchen und Frauen besonders benachteiligt und daher besonders gefördert werden müssen. Die Episode „Gender and Development“ der Podcast-Reihe Development Drums, erschienen am 10. August, (Podcast zum Download und als Transkript erhältlich, beides auf Englisch) beleuchtet dieses Thema auf spannende Weise und aus Expert_innensicht näher.  Owen Barder vom Centre for Global Development spricht mit Andrea Cornwall, IDS University of Sussex und Prue Clarke vom Journalismus-Projekt New Narratives, über Gender, Empowerment und die Zukunft der EZ.

Mädchen und Frauen statt Gender – warum eigentlich?

Ich möchte keine vollständige Zusammenfassung wiedergeben, nur einige zentrale Punkte, die ich im Hinblick auf die aktuellen weit verbreiteten Ansätze zur Mädchen- und Frauenförderung in der EZ wichtig finde. Derzeit herrscht in weiten Teilen der EZ-Welt Einigkeit darüber, dass Mädchen- und Frauenförderung eine wichtige Maßnahme zur Armutsminderung ist. Dazu gehören etwa Programme, die die Einschulungsraten von Mädchen steigern sollen oder Frauen Zugang zu Mikrokrediten gewähren.

Ihnen zugrunde liegt i.d.R. die Annahme, dass Mädchen, die besser gebildet sind oder Frauen, die ein (höheres) Einkommen erzielen, eine bessere Stellung in ihrer jeweiligen Gesellschaft erreichen können.

Aber ist das wirklich so einfach? Und wirkungsvoll? Nicht unbedingt, sagt z.B. Andrea Cornwall, vor allem, wenn Jungen und Männer dabei nicht einbezogen werden und – ein wesentlicher Punkt – fundamentale strukturelle Ursachen der geschlechterbasierten Diskriminierung außer Acht gelassen werden. In einem Beitrag für den Guardian hatte Cornwall dies auch im März dieses Jahres thematisiert.

Cornwall kritisiert die derzeit populären Ansätze, die propagieren, durch Förderung von Individuen deren bestehende gesellschaftliche Diskriminierung abbauen zu können, ohne jedoch die strukturellen Ursachen von Benachteiligung zu benennen und mit in die Interventionen einzubeziehen. Etwa, Mädchen den Schulbesuch ermöglichen oder Frauen Zugang zu Mikrokrediten, aber darüber hinausgehend hinterfragen, warum Mädchen seltener zur Schule gehen oder inwieweit Kredite zu einer langfristigen Stärkung der gesellschaftlichen Position von Frauen beitragen (können).

In anderen Worten: Zu oft werden Symptome bekämpft, anstatt die tiefergehenden Ursachen zu benennen und zu bearbeiten.

Ein Beispiel Cornwalls für eine gegensätzliche Vorgehensweise ist der Kampf gegen weibliche Genitalbeschneidung in Westafrika. Erfolgreiche Ansätze konzentrieren sich nicht auf die Betroffenen alleine, sondern vor allem auf deren gesellschaftliches Umfeld und schaffen es, den Dialog der Angehörigen aller Alters- und Geschlechtergruppen einzurichten und aufrechtzuerhalten.

Ist „Empowerment“ heute eher „Empowerment light“?

Der Empowerment-Ansatz, seit rund zwei Jahrzehnten wichtiges Konzept zur Stärkung der Rechte und Positionen von gesellschaftlich benachteiligten Gruppen (insbesondere „Frauen“ in vielen Fällen), könnte hier ein wichtiger Wegweiser sein. Angesichts der beschriebenen eindimensionalen Ansätze ist er in vielen Fällen eben nur noch „empowerment light“, meint Cornwall.

Wirkliches Empowerment würde den Fokus wieder stärker auf „power“, also „Macht“ legen und könnte z.B. in Form der Unterstützung der verschiedenen Frauenbewegungen vor Ort in den jeweiligen Ländern geschehen. Auch gibt es eine Reihe von Aktivis_innen-Fonds und internationalen Lobbyorganisationen, deren Arbeit unterstützt werden könnte, denn nur so können fundamentale Machtunterschiede, die der Diskriminierung von Mädchen und Frauen zugrunde liegen, wirksam bekämpft werden.

Die results agenda und das Projektzyklusdenken 

Das, und hier stimme ich Andrea Cornwall absolut zu, ist im gegenwärtigen Kontext der EZ eher schwierig. Cornwall spricht sich sehr stark gegen die gegenwärtige results agenda aus, in der in der EZ vor allem darauf geschaut wird, welche (quantifizierbaren) Ergebnisse innerhalb einer bestimmten Zeitspanne erreicht werden können.

Zudem muss dies in relativ kurzen Zeitabständen geschehen, damit auch nachgewiesen werden kann, was bestimmte Mittel (und es handelt sich hier i.d.R. um Steuergelder oder aber um Spenden) bewirkt haben. Daher wird in sehr  kurzfristigen 2 bis 3-jährigen Projektzyklen gedacht wird, mit welchen sich zwar kurzfristige Ziele erreichen lassen (über die gut berichtet werden kann), tiefgreifende strukturelle Änderungen hingegen benötigen aber Zeit.

So wird sich wohl erst einmal nichts ändern, andererseits ist es auch das Wesen der Entwicklungswelt, dass sich über einen längeren Zeitraum gesehen, doch vieles ändern kann und Organisationen, ihre Konzepte und Ansätze sich ständig wandeln. Kurzfristig aber wäre es schon wünschenswert, wenn wir wieder etwas wegkämen von der reinen Mädchen- und Frauen- hin zu einer Gender-Agenda.

Links zum Wochenende #2

Abschaffung der Armut? Von den einen als derzeitiger „gold standard“ der Evaluierungspraxis  in der EZ gepriesen, von den anderen u.a. wegen ethischer Bedenken scharf kritisiert, sind Experimente mit Kontrollgruppen (randomized control trials, RCTs) in der EZ derzeit en vogue. Maßgeblich an deren Entwicklung beteiligt sind Esther Duflo und Abhijit Banerjee vom Poverty Action Lab des MIT. Bei ZEIT Online gibt es einen Beitrag über Esther Duflo (Wie Armut abgeschafft werden kannund ein Interview mit Duflo und Abhijit Banerjee (von 2011). Auch wenn man dem Ansatz kritisch gegenüber steht, lohnen sich die Lektüre sowie ein Blick in die Kommentardiskussionen.

Portionen wie in der „Dritten Welt“: Etwas boshaft im Ton, denkt Robert Misik in der taz darüber nach, warum es uns reiche Europäer_innen so sehr trifft, dass Konzerne wie Unilever nun auch in europäischen Ländern ihre Produkte in kleineren Packungsgrößen anbieten. Bislang kannten wir das ja eher aus den sog. Entwicklungsländern, wo man einzelne Zigaretten oder Teeblätter für eine einzige Tasse Tee erwerben kann.

Genossenschaftliche Selbsthilfe in Indien: In einem kurze Beitrag in E+Z berichtet die Journalistin Adithi Roy Gitak über eine Genossenschaft, in der sich Sexarbeiter_innen zusammengeschlossen haben, um sich gegenseitig zu helfen und gemeinsam für ihre Rechte einzutreten. Ein interessantes Beispiel, wie lokal angepasste Ansätze funktionieren können.

Wir sind die Macht: Der Freitag stellt das Buch der liberianischen Friedensnobelpreisträgerin Leymah Gbowee vor, mit Leseprobe, Links zu Rezensionen und Hintergrundinformationen über Liberia und die Situation der Frauen im Land.

Afrikanischer Feminismus: Charlott hat einen Blogbeitrag von Minna Salami, Autorin des Blogs MsAfropolitan, ins Deutsche übersetzt: Afrikanischer Feminismus, 7 Hauptthemen.

Proteste in Togo: Afrika Echo berichtet von den seit Juni andauernden Protesten gegen die togolesische Regierung.

Wahlen in Angola: Zum zweiten Mal nach Ende des Bürgerkrieges 2002 wird in Angola gewählt. Die taz berichtet.

Nach Kony 2012: Wo ist Joseph Kony und wer macht Jagd auf ihn?

Im März dieses Jahres waren alle Medien voll von Berichten über die Jagd auf Joseph Kony und die von ihm angeführte Lord’s Resistance Army (LRA), nachdem die US-Organisation Invisible Children mit ihrem Video ihre „Kony 2012“-Kampagne begonnen hatte. Auch ich hatte zwei Beiträge darüber geschrieben.

Seitdem ist es wieder ruhig geworden. Grund, einmal nachschauen, wie der aktuelle Stand der „Jagd auf Kony“ ist.

Wo sind Kony und die LRA und wer macht Jagt auf sie?

Schon vor Beginn der diesjährigen Kampagne, im Oktober 2011, hatte die US-Administration unter Präsident Obama 100 Soldaten zur Unterstützung der ugandischen Armee und weiterer Armeen benachbarter Länder in die Region entsandt, um die Jagd auf die LRA durch Schulungsmaßnahmen und mit technischen Hilfsmitteln zu unterstützen. (Mark Kersten kommentierte dies im Hinblick auf mögliche US-Interessen an vor nicht allzu langer Zeit entdeckten ugandischen Ölvorkommen).

Unter einem Mandat der Afrikanischen Union (AU) macht derzeit eine Truppe von 5.000 Soldaten aus Südsudan, der zentralafrikanischen Republik (CAR) sowie der Demokratischen Republik Kongo (DRC) Jagd auf die LRA. Leider mangelt es ihr an grundlegender Ausrüstung wie festen Schuhen, Uniformen, ausreichend Nahrung wie auch an Training.

Zudem ist unklar, wie Reuters im Mai berichtete, ob die Einsatzkräfte überhaupt in vollem Umfang abgestellt werden können. Anhaltende Spannungen zwischen Sudan und Südsudan sowie die bewaffneten Konflikte im Osten der DRC binden sie an anderen Orten.

Die AU vermutet, dass die LRA derzeit aus 300 bis 500 Kämpfer_innen zusammensetzt, darunter auch Minderjährige, die entführt und zum Kämpfen gezwungen wurden. Ebenso wird vermutet, dass sich Kony und seine Gruppe im Grenzgebiet von Sudan, Südsudan, CAR und DRC aufhalten und grenzübergreifend immer wieder einzelne Dörfer überfallen.

Seit 2005 besteht ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes gegen Joseph Kony und vier weitere Anführer der LRA.

Vermutlicher Rückzugsort von Kony: Darfur

Unbestätigten Berichten zufolge könnte sich Kony mit seiner Truppe in Darfur, Sudan, aufhalten. Laut Mark Kersten, Wissenschaftler an der Londoner LSE, ist es ein „offenes Geheimnis“, dass die sudanesische Regierung in Khartoum Kony schon lange unterstützt. Ein gewichtiges Argument dafür ist u.a., dass sich Sudan nicht an der AU-Truppe zur Jagd auf die LRA befasst ist. Sudan wäre demnach also ein sicherer Rückzugsort, da die Truppe kein Mandat hat, dort zu intervenieren.

Aktuellen ugandischen Presseberichten zufolge kam es vor wenigen Tagen zu Kämpfen der ugandischen Armee mit LRA-Rebellen in der CAR, bei denen zwei LRA-Kämpfer getötet wurden. Bereits im Mai hatten ugandische Truppen einen LRA-Kommandanten festgenommen, unklar ist allerdings, ob er gefangen genommen wurde oder sich freiwillig gestellt hat.

Ist ein baldiger Erfolg absehbar? Die Lage bleibt unübersichtlich…

Kony und die LRA verstecken sich in einer der unübersichtlichsten Regionen der Afrikas, die weitgehend als „gesetzlos“ beschrieben werden kann. Die LRA ist ständig in Bewegung, wechselt laufend ihre Standorte und ist in kleine Gruppen unterteilt, was die Jagd zweifellos erschwert.

Sollte sie aber, wie viele Autor_innen vermuten, Unterstützung aus Khartoum erhalten und in Darfur ein Rückzugsgebiet haben, von dem aus Überfälle auf Regionen der benachbarten Länder organisiert werden, dürfte es noch lange dauern, bis ihr Anführer Joseph Kony gefangen werden kann.

Der Tenor der meisten Berichte ist daher, dass es in nächster Zeit gelingen könnte, Kony festzunehmen – oder auch nicht. Wirkliche Fortschritte scheinen also bislang nicht erfolgt zu sein. Wo so viele Regierungen und Armeen beteiligt sind, ist aber auch Vorsicht angeraten, was die jeweiligen Motive für das Festnehmen (oder eben nicht-Festnehmen) der Gesuchten betreffen könnte.

Hintergrund

Eine interessante Quelle (Englisch) ist die im Auftrag der African Studies Association herausgegebene Kurzübersicht React and Respond: The Phenomenon of Kony 2012. Sie präsentiert Hintergründe und mögliche Lehrinhalte zu LRA, zusammengestellt von Wissenschaftler_innen  im Zuge der Kony 2012-Aktivitäten.

Der englischsprachige Blog Justice in Conflict verfolgt die Berichterstattung zum Thema und kommentiert Meldungen; Interessierte können hier gelegentlich nach neuen Entwicklungen in Sachen LRA und der Jagd auf Kony nachlesen.

Links zum Wochenende #1

Ich mag es, wenn andere Blogger_innen in regelmäßigen Abständen interessante Links zusammenstellen, daher habe ich mir vorgenommen, das zukünftig auch zu tun. Ich versuche, vorwiegend deutschsprachige Artikel vorzustellen, aber mit der Zeit werden sich sicher auch die ein oder anderen englischsprachigen Beiträge hier wieder finden.

Wie immer freue ich mich über Kommentare, Anregungen oder Kritik.

Altkleider: Chrismon bringt ein interessantes Interview mit Andreas Voget, Geschäftsführer des Vereins FairWertung e.V., über „Das Geschäft mit Altkleidern“.  Darin wird näher beleuchtet, was mit Altkleidern passiert, nachdem wir sie in den Container geworfen haben, die Frage untersucht, ob Altkleider wirklich die Ursache für den Niedergang der Textilindustrie in afrikanischen Ländern sind und Tipps gegeben, was wir am besten mit unserem alten Wintermantel machen sollten.

Jugendliche in Burundi: jetzt.de berichtet über einen Besuch bei Jugendlichen in Burundi. Der Text ist leider etwas oberflächlich und klischeebeladen, aber gibt einen Einblick in eine Gesellschaft, von der man ansonsten kaum etwas in deutschsprachigen Medien liest.

Fotoausstellung: Das ZEIT Magazin zeigt einige Fotos von Albert Watson unter dem Titel „Das Gesicht Afrikas“. Watson ist im Auftrag der Initiative „Cotton Made in Africa“ durch Benin gereist und seine Bilder sind vom 14. September bis zum 6. Januar 2013 in der Ausstellung „Visions. feat Cotton Made in Africa“ in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen. Die Bilder wirken für sich genommen ästhetisch, aber auch irgendwie befremdlich; darunter steht ein sehr guter diesbezüglicher Kommentar von Nadine Siegert, Ethnologin und stellv. Leiterin des Iwalewa-Hauses in Bayreuth, der sich zu lesen lohnt.

Tod des äthiopischen Ministerpräsidenten: Nachdem er sich seit Monaten nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt hatte, ist Meles Zenawi nun am vergangenen Wochenende gestorben. Ein Nachruf bei tagesschau online mit Audio- und Videomaterial und ein Kommentar der SZ dazu. 

Berichterstattung über die Demokratische Republik Kongo: Die wahrscheinlich beste journalistische Berichterstattung über Zentralafrika gibt es bei der taz. Sie dokumentiert den Stuttgarter Kriegsverbrecherprozess gegen zwei mutmaßliche Anführer der FDLR-Miliz; Bianca Schmolze und Dominic Johnson ziehen hier eine Zwischenbilanz. Außerdem berichtet derzeit Simone Schlindwein aus dem Ostkongo und im Online-Angebot gibt es dazu eine Reihe sehr guter Artikel sowie ein Video-Interview mit einem Pressesprecher der FDLR.

Malawi: Nach dem plötzlichen Tod des Präsidenten Mutharika ist seit April dieses Jahres mit Joyce Banda die zweite Frau Staatschefin eines afrikanischen Landes (nach Ellen Johnson Sirleaf in Liberia). Waren unter Mutharika die Beziehungen zu den wichtigsten bilateralen Gebern zerrüttet, hat Banda erreicht, dass die Entwicklungs-Zahlungen wieder aufgenommen werden. Allerdings bedeutet das noch lange keine Besserung für viele Malawier_innen, schreibt Raphael Mweninguwe in E+Z.

„Partizipation“ in der EZ: Einige Gedanken und Beispiele

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=jAWtKo36Sfg&w=560&h=315]
Als Beispiel für die unten kurz vorgestellte Methodik ein kurzes Video über die Anwendung von einfachen Kartierungstechniken (mapping) in einem Gender-Programm von Oxfam Novib; die Langversion des Filmes gibt es hier (leider alle nur auf Englisch verfügbar).
http://youtu.be/dGtFnUAYK0k (Teil 1)
http://youtu.be/whoZ2GuBnrQ (Teil 2)
Ganz unten gibt es noch ein längeres Video über einen PRA-Prozess in Indien.

Partizipative Einsichten 

Ich habe kürzlich einen fünfwöchigen Online-Kurs über partizipative Methoden in Monitoring und Evaluierung (Participatory Monitoring and Evaluation, PM&E) absolviert; Anbieter war die US-NGO Village Earth zusammen mit der Colorado State University.

Der Kurs war sehr gut und hat mir Gelegenheit gegeben, Literatur zu lesen, die ich schon immer mal lesen wollte. Ganz vorne auf der Liste stand Robert Chambers‘ „Whose Reality Counts?“ („Wessen Realität gilt?“). Das Buch mit dem Untertitel „Putting the First Last“ („Die Ersten an letzte Stelle setzen“) ist bereits 1997 erschienen aber immer noch hochaktuell und sollte Standardlektüre sein für alle, die auch nur im Entferntesten etwas mit dem Bereich Entwicklung und/oder internationale Zusammenarbeit zu tun haben. (Auch für alle anderen ist es grundsätzlich interessant, durch die vielen Beispiele aus dem EZ-Kontext aber vielleicht etwas sehr fachspezifisch).

Lernen lernen – learning to learn

Robert Chambers ist ein Pionier der sog. partizipativen Ansätze in der EZ, etwa durch die von ihm maßgeblich mitentwickelte PRA (participatory rural appraisal)-Methodik (wobei er sich sehr stark auf den Pädagogen Paulo Freire bezieht). Eine grundlegende Annahme dieses Ansatzes ist, dass „die Armen“ die wahren Entwicklungsexpert_innen sind, denn sie kennen ja ihre Lebensbedingungen am besten.

Immer wieder wird diskutiert, warum EZ trotz vieler Milliarden und Jahrzehnte andauernden Aktivitäten so wenig Wirkung zeigt und warum so vieles, was gut gemeint war, bei der Umsetzung dann schief geht. Ein Kernproblem liegt nach Chambers darin begründet, dass viele Projekte und Programme von Menschen geplant werden, die weit entfernt von den Orten des Geschehens sitzen und nicht immer über Erfahrung „im Feld“ verfügen. Ihr durch Ausbildung und Berufstätigkeit erworbener Expert_innenstatus erhebt sie zudem über die „Armen“, und bewirkt, dass letztere nicht gehört werden und stattdessen Annahmen über deren vermeintlichen Bedürfnisse getroffen werden.

Expert_innen, die von außen kommen und das Leben vor Ort nur für einen begrenzten Zeitraum miterleben, sollten sich stattdessen, so argumentiert Chambers, stark zurücknehmen . Statt Prozesse anzuleiten und zu steuern sollten sie als Moderator_innen (facilitators) wirken und sich dabei selbst als Lernende begreifen. Lernen lernen (learning to learn) nennt Chambers diesen Prozess, sich als Expert_in auf eine neue Arbeitsweise, die die Wahrnehmung und Arbeitsweise der Menschen vor Ort in den Mittelpunkt stellt, einzulassen.

Wie uns Macht und Status beeinflussen: Die Dominanz der Uppers gegenüber der Lowers 

Chambers stellt dar, wie jede_r von uns ihre eigene Realität konstruiert und wie dies mit dem jeweiligen Status als Upper oder Lower zusammen hängt. Uppers bezeichnet Menschen, die in einem bestimmten Kontext dominant sind (etwa Lehrer_innen vs. Schüler_innen oder Expert_innen vs. Laien); Lowers sind in einem bestimmten Kontext Uppers untergeordnet. Je nach Kontext kann der Status wechseln; eine Lehrerin könnte z.B. in einer Runde mit Schulleiter_innen als Lower agieren, vor ihrer Klasse aber ist sie i.d.R. ein Upper.

Jede_r von uns kennt das aus den vielfältigen sozialen Beziehungen, die uns im Lauf der Jahre begegnen. Im Lauf der Zeit werden wir in bestimmten Bereichen immer mehr vom „Lower“ zum „Upper“, etwa von der Schülerin zur Studentin und zur arbeitenden Expertin.

In der EZ, so Chambers, sind die Dominanzbeziehungen meist sehr einseitig; westliche Expert_innen treten i.d.R. als Uppers gegenüber vermeintlich ignoranten und unwissenden „Armen“, den Lowers auf. Expert_innen sprechen den „Armen“ Wissen ab, denn aufgrund der von ihnen im Lauf ihrer Bildungs- und Arbeitskarriere erworbenen Erfahrung konstruieren sie ihre Realität als Expert_innen, die sich durch Fachwissen von den „Nichtwissenden“ unterscheiden.

Standardantworten statt lokal angepasster Strategien

Das führt dann immer wieder dazu, dass Expert_innen sich untereinander zitieren, und Modelle am Schreibtisch entwerfen, anstatt vermeintlich wasserdichte Fakten zu hinterfragen und sie vor Ort und in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung zu verifizieren. Zum Beispiel hält sich unter Expert_innen die Annahme, dass Bäuer_innen Saatgut nach der Höhe des zu erwartenden Ertrags auswählen, weswegen solche Varianten im Rahmen landwirtschaftlicher Programme gezüchtet und verteilt wurden. Studien in Ruanda zeigten jedoch, dass ruandische Bäuer_innen Saatgut anhand 15 verschiedene Kriterien bewerteten, wovon die Höhe des Ertrags nur eine darstellte.

Entsprechend dem Untertitel seines Buchs ruft Chambers die „Ersten“ (Expertinnen, bzw. Uppers) dazu auf, sich selbst an die letzte Stelle zu setzen, um den Lowers, den „Armen“ Raum zu geben, damit sieProzesse der Planung und Wissensproduktion selbst steuern und durchzuführen können.

Das klingt ziemlich theoretisch, soll aber nur den Denkansatz, der der partizipativen Arbeit zugrunde liegt, kurz anreißen. Die eigentliche partizipative Arbeit ist höchst praktisch ausgerichtet und nutzt eine Vielzahl interaktiver Methoden und Techniken, vorzugsweise solche, die auch von Menschen die kaum oder gar nicht lesen und schreiben können angewandt werden können.

Spannender, als das nachzulesen, ist es, sich die partizipative Arbeit in der Praxis anzusehen, etwa im oben verlinkten Video, einem Ausschnitt aus einem längeren Oxfam-Film über die in Uganda, Sudan, Indien und Pakistan entwickelte Gender Action Learning System  (GALS) Methode.

Noch zwei Absätze zur „Partizipation“

Partizipation im Sinne von Chambers geht dabei über das hinaus, was in vielen Programmen und Projekten der EZ unter Partizipation firmiert. Partizipation ist eines jener schwammigen Konzepte der EZ, die in den vergangenen Jahren stets prominenter werden, ohne dass es aber eine wirkliche allgemein gültige Definition gäbe. Partizipation erschöpft sich allzu oft darin, dass einmal eine kurze Umfrage unter Dorfbewohner_innen gemacht oder einige Fokusgruppendiskussionen abgehalten wurden oder aber einige wenige Vertreter_innen von lokalen Organisationen zu Treffen geladen werden. Die Kontrolle von Prozessen bleibt dabei ausschließlich in den Händen von Experti_innen.

Das heißt aber nicht, dass die von Chambers und seinen Vorgänger_innen inspirierten partizipativen Ansätze ein Allheilmittel sind. Auch wäre es unrealistisch zu glauben, Organisationen könnten diese ohne jegliche Probleme einfach umsetzen, dazu sind die Strukturen innerhalb derer wir uns bewegen, auch zu komplex. Ich finde allerdings den dahinter stehenden Denkansatz und insbesondere das methodische Vorgehen, dass sich von den westlich geprägten Ansätzen, die überwiegend schriftbasiert und tabellarisch vorgehen, absetzt, sehr spannend und eine wichtige Ergänzung, auch im Hinblick auf die Reflexion der eigenen Arbeit und Wahrnehmung.

Und zum Schluss noch ein Video über einen gesamten PRA_Prozess in Indien; etwas älter, bietet aber einen sehr guten Einstieg in die Thematik (leider nur auf Englisch verfügbar).

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=66GcJ1VbSm0&w=420&h=315]

Gender in der Entwicklungszusammenarbeit: Frauen und Männer in der Krise

Am 25. Juni dieses Jahres fand in Genf eine Veranstaltung mit dem Titel Multiple Global Crises and Gender: Rethinking Alternative Paths for Development. (Multiple Globale Krisen und Gender: Nachdenken über alternative Wege in der Entwicklungszusammenarbeit) statt.
Eingeladen hatte das UN Forschungsinstitut für Soziale Entwicklung UNRISD. Es sprachen

  • Devaki Jain, Gründerin und frühere Direktorin des Institute of Social Studies in Delhi, Indien, zu „Time for a Game Shift“ (Zeit für neue Regeln im Spiel)
  • Naoko Otobe, Senior Employment Specialist (and currently Gender and Employment Coordinator) der ILO, über „Gender Dimensions of the world of work in a globalized economy“ (Genderdimensionen in der Arbeitswelt einer globalisierten Wirtschaft)
  • und Mariama Williams, Senior Fellow with the South Centre, stellte „Interventions on the financial crisis, the global economy and climate change funding“ (Interventionen im Zuge der Finanzkrise, der globalen Wirtschaft und der Finanzierung von Maßnahmen gegen den Klimawandel) vor.

Ein kurzer Ausschnitt der Veranstaltung mit allen drei Sprecherinnen ist hier zu sehen; auf der UNRISD-Website gibt es die komplette Veranstaltung als Podcast und die Präsentationen von Devaki Jain und Naoko Otobe zum download. (Diejenige von Naoko Otobe bietet einen sehr guten Überblick zum Thema Frauen und wirtschaftliche Entwicklung“.)

Feministisches Wissen in der Krise

Die Diskutantinnen sprachen über Thesen aus dem kürzlich veröffentlichten Buch Harvesting Feminist Knowledge for Public Policy (Was feministisches Wissen zur Reform der öffentlichen Ordnung beitragen kann), herausgegeben von Devaki Jain und Diane Elson.

Im Buch und auf der Veranstaltung wird/wurde über die Zusammenhänge zwischen Ökonomie, Armut und globalen Herausforderungen wie den Klimawandel diskutiert und über die Erfahrungen, die Frauen in diesen Kontexten machen. Frauen sind weltweit stärker von Armut betroffen und angesichts der erwähnten Krisen bedroht. Sie leisten den maßgeblichen Anteil der unbezahlten Reproduktionsarbeit (inklusive landwirtschaftlicher Arbeiten), arbeiten zu geringeren Löhnen und mit mehr Unsicherheit, doch die gängigen ökonomischen Theorien und Modelle blenden das aus.

Jain merkte z.B. an (siehe verlinktes Video (Kurzfassung; die Langfassung habe ich mir noch nicht angehört)), dass als Gegenpol der gängigen Wirtschaftstheorien eine feministische Wirtschaftstheorie benötigt wird, da etwa auch während der gegenwärtigen Banken- und Wirtschaftskrise ausschließlich auf von Männern entworfene Theorien Bezug genommen wird, wie Keynes oder Marx.

Feministische Ansätze und Theorien gibt es zwar, darin stimmen Jain und Williams überein, sie sind jedoch fragmentiert wenig bekannt, was auch daran liegt, dass sich Feminist_Innen selbst „ghettoisieren“. Es liegt allerdings auch daran, dass der wissenschaftliche Mainstream immer noch männlich dominiert ist und auch die Umsetzung vieler (Entwicklungs)Maßnahmen innerhalb und mithilfe vorwiegend männlich geprägter Strukturen und Institutionen stattfindet.

„Gender“ ist nicht gleich „Frauen“- auch in der EZ

Ich habe mich, bis auf das an der Uni Gelernte, bisher wenig mit wirtschaftstheoretischen Entwicklungsansätzen beschäftigt. Grundsätzlich stimme ich aber der Ansicht zu, dass in den Debatten über Wirtschaft und Entwicklung männliche Stimmen dominieren und eine allgemeine Sensibilität für eine genderbezogene Analyse fehlt. Angefangen dabei, dass „Gender“ und „Frauen“ zwei ganz verschiedene Dinge sind und „Gender“ immer auch bedeutet, die Rolle von „Männern“ mitzudenken, bzw. zu analysieren.

Gerne wird ja „Gender“ als „Frauenkram“ abgetan oder als „Frauenförderung“ missverstanden. Dabei geht es da ja um das Verhältnis der verschiedenen Genderrollen zueinander, und beinhaltet auch weitere Faktoren, wie etwa Klasse, ethnische Herkunft, etc. Je nach Kontext hat eine sehr arme Frau evtl. mehr mit einem sehr armen Mann gemeinsam als mit einer sehr reichen Frau – und von Genderrollen abseits der Frau-Mann-Teilung rede ich hier noch gar nicht.

Die Präsentation Otobe, auf der verlinkten UNRISD-Seite einzusehen, bietet einen guten Überblick über das Thema „Frauen und wirtschaftliche Entwicklung“. Einige deutsch- und englischsprachige Dokumente und Links zu „Frauen und Gender in der EZ“ gibt es beim BMZ.

Der Austausch: Kindheit

Einmal im Monat unterhalten sich unter dem Titel “Der Austausch”  Claire  und Charlott über ein Thema. Dabei bringen wir verschiedene Kenntnisse, Meinungen und Erfahrungen zusammen. Gleich aber ist unser Interesse für Afrika. Vorschläge für Themen können auch gern in den Kommentaren gemacht werden.

Diesen Monat geht es um das Thema Kindheit: Wir sprechen über die Schwierigkeit, Kindheit überhaupt zu definieren. Claire klärt über Kinderrechte auf und Charlott erzählt über den Umgang mit Kindersoldat_innen in Romanen afrikanischer Autor_innen.

Charlott: Was bedeutet für dich Kindheit?

Claire: Meine erste Assoziation ist die von der „glücklichen Kindheit“, also sich um existenzielle Dinge keine Gedanken machen müssen, das Leben vor sich zu haben, viel Neues entdecken zu können. Das entspricht ja dem Ideal unserer Gesellschaft, Kinder behütet aufwachsen zu lassen, sie lange von schlechten Einflüssen fernzuhalten und sie beschützen zu wollen. Vermutlich würde ich mir das für meine eigenen Kinder auch wünschen.

Es gibt ja die menschliche Tendenz zu denken, dass gewisse Dinge „schon ewig“ so seien wie sie sind. Die „glückliche Kindheit“ ist so eine Annahme. Bis vor relativ kurzer Zeit waren z.B. Kinderarbeit oder Schläge in der Schule in Deutschland noch üblich. Und erschreckend viele Kinder in Deutschland leben in Armut, ich denke da z.B. auch an das Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz, das ja auch viele Kinder betrifft.

Durch mein Ethnologiestudium und meine Arbeit in der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) beschäftige ich mich seit langem auch mit dem Konzept Kindheit in anderen Gesellschaften. Interessant finde ich z.B., dass „Kindheit“ zwar weltweit legal altersmäßig definiert ist, von 0-18 Jahren, manchmal bis 21 Jahre, aber in vielen afrikanischen Ländern etwa gelten Menschen bis über Dreißig u.U. als „Kinder“ oder „Jugendliche“. (Habe ich auch aus lateinamerikanischen Ländern gehört, in diesem Kontext habe ich aber wenig Erfahrung.)

Kürzlich habe ich z.B. über ein Projekt in Kenia gelesen, in dem Jugendliche lernten, mittels Videofilmen auf Probleme in ihrem Umfeld aufmerksam zu machen und für sie geeignete Lösungsansätze zu erarbeiten. Da gab es einen Teilnehmer, der bereits 35 Jahre alt war, aber von der ihn entsendenden Organisation offenbar als Jugendlicher gesehen wurde.

Andererseits werden Mädchen, die sehr jung Kinder bekommen, bereits als Erwachsene behandelt. In Tansania habe ich mit so einigen Teenager-Müttern gesprochen, die ihre Schulausbildung abbrechen mussten oder nicht auf eine weiterführende Schule gehen konnten, weil jetzt von ihnen erwartet wurde, dass sie Geld verdienen oder im Haushalt ihrer Familie helfen. Mit Kind galten sie dann schnell als Erwachsene, auch mit 14, 15 Jahren.

Ich würde also sagen, Kindheit ist eine soziale Zuschreibung, die von Gesellschaft zu Gesellschaft variiert, nicht einfach die Zeit von der Geburt bis zum Erwachsenenalter, sie beginnt mit der Geburt, aber ihr Ende ist nicht nur legal sondern auch durch soziale und wirtschaftliche Faktoren bestimmt.

Was bedeutet denn für dich Kindheit?

Charlott: Die Frage ist natürlich schwierig zu beantworten, denn zuerst erscheinen einer_m doch Bilder im Kopf, die mit der eigenen Kindheit verbunden sind. Also ganz persönliche Dinge.

Prinzipiell ist mir aber besonders wichtig auf die Konstruiertheit des Konzepts hinzuweisen, was du ja auch schon erwähnt hast. Kindheit ist eben nichts fixes, nichts unveränderliches, sondern etwas was je nach Ort und Zeit vollkommen unterschiedlich aufgefasst und konzeptionalisiert wird. Oder eben auch auch gar nicht konzeptionalisiert wird. Ein weiterer Punkt, der in deinen Ausführung ja auch schon implizit steckt, ist, dass Kindheit je nach Geschlechts- Zuschreibung ganz anders ausgeformt sein kann. Auch spielt der ökonomische Rahmen eine wichtige Rolle.

Also prinzipiell ist Kindheit so allgemein erstmal gar nichts. Spezifisch dann aber das Konzept, welches umfasst, wie in einer bestimmten Gesellschaft junge Menschen und ihre Lebenswelt gesehen wird.

Du hast dich ja viel mit Kinderrechten auseinandergesetzt, wie kam es dazu?

Claire: Das kam dadurch, dass ich einige Jahre lang für eine Kinderrechtsorganisation gearbeitet habe. Das Thema „Kinder“ oder „Kinderrechte“ war zu Beginn gar nicht mal ausschlaggebend, eher mein generelles Interesse an der EZ. Mit der Zeit habe ich mich dann immer mehr damit beschäftigt und finde es mittlerweile ein sehr spannendes Thema. Ich beschäftige mich seit Schulzeiten schon mit Menschenrechten, irgendwie fiel das dann auch zusammen. Und ich finde es spannend, dass hier ein Thema gerade dabei ist, von einem Nischen- zu einem immer prominenteren Thema zu werden und weil es da viele spannende Ansätze gibt, auch mit Medien, wie Radio, Theater, Video, usw., also viel Kreatives, in das die Kinder gut einbezogen werden können.

 Charlott: Was unterscheidet Kinderrechte von Menschenrechten?

 Claire: Menschenrechte gelten auch für Kinder. Was die Kinderrechte besonders macht ist, dass sie in einer separaten Konvention niedergeschrieben sind, die 1989 von der UN-Vollversammlung verabschiedet wurde (anders als die Menschenrechtscharta von 1949).

Die Kinderrechte berücksichtigen, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind; sie tragen ja keine Verantwortung gegenüber Schutzbefohlenen sondern benötigen ihrerseits Erwachsene dazu, sich für ihre Rechte einzusetzen. Das verlangt von Erwachsenen wiederum, immer im Sinne des Kindeswohls zu handeln und nicht nach eigenen Interessen (ich denke hier z.B. an Sorgerechtsfragen, was allerdings auch eine sehr komplexe Sache ist).

Du hast Deine Masterarbeit über Romane afrikanischer Autor_innen geschrieben, die sich mit Kindersoldat_Innen befasst haben. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu unserer europäisch-westlichen Vorstellung von Kindheit sind dir dabei aufgefallen?

Charlott: Den Begriff Kindersoldat_innen in Bezug auf die Bücher habe ich überings nie benutzt, sondern den regional in Westafrika verbreiteten Begriff small soldier. Warum? Ich finde diese regionale Verankerung des Begriffs gut und dass er auch sehr deutlich macht, wo Kindersoldat_innen in der Hierarchie stehen. In einem meiner einleitenden Kapitel, war es mir aber auch wichtig herauszustellen, dass Kindersoldat_innen weder ein neues noch ein afrikanisches Phänomen sind, denn die gewöhnliche Berichterstattung lässt ja eher das Gegenteil vermuten.

Dahlmann hat im Jahr 2000 mit dem Sammelband „Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution. Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Kindersoldaten Afrikas“ den Blick in die Geschichte geworfen und Kinder und Jugendliche in verschiedenen Kriegen und Konflikten als Opfer und Täter entdeckt. So schreibt er: „In der Mexikanischen Revolution der 1910er Jahre begegnet uns der Kindersoldat, ein acht bis sechzehn Jahre alter Junge mit einem sehr alten Gesicht, ein Gewehr über der Schulter, eine Zigarette im Mundwinkel.“ (S. XI)

In den von mir betrachteten Romanen wird so natürlich eine sehr spezifische Kindheitserfahrung gezeigt. Dabei ist aber allen Büchern (auch anderen die ich zu dem Thema kenne) eigentlich gleich, dass sie sich nicht hinstellen und suggerieren: “Hey, das Kinder kämpfen ist doch total super!”. Viel eher wird halt die (vermeintliche) Besonderheiten von kindlichen Protagonist_innen wie z.B. eine bestimmte Weltsicht oder Fähigkeit die Erfahrungen einzuschätzen auch genutzt, um z.B. Krieg an sich zu kritisieren.

Claire: Wie haben denn in den Büchern, mit denen Du Dich für die Masterarbeit beschäftigt hast, die erwachsenen Charaktere über Kinder gedacht und sie behandelt?

Charlott: Viele der Romane, die sich mit small soldiers beschäfftigen sind interessanterweise so geschrieben, dass der small soldier (als Hauptfiguren leider wirklich immer Jungs, was die Unsichtbarkeit von weiblichen Geschichten fortschreibt) die Erzählstimme ist. Als Leser_in erfährt mensch also kaum direkt, was Erwachsene denken. Eine Ausnahme ist da der Roman Moses, Citizen & Me. Die Geschichte wird aus der Perspektive der erwachsenen Julia erzählt, die sich dem gerade einmal achtjährigen ehemaligen small soldier annährt. Spannend finde ich dabei, dass sie dies vor allem durch erträumte phantastische Begegnungen tut und vor allem beobachtet.

Allgemein erfahren die kindlichen Protagonist_innen durch die Erwachsenen (vor allem  natürlich Männer*) in den Romanen auch sehr viel Gewalt.

Wirklich interessant ist das Ende von Beasts of No Nation (Uzodinma Iweala). Dort trifft der Protagonist und Erzähler Agu auf die Amerikanerin Amy, die ihn in einem Auffanglager betreut. Agu sagt: “She is telling me to speak speak speak and thinking that my not speaking is because I am like baby. If she is thinking I am baby, then I am not speaking because baby is not knowing how to speak. But everytime I am sitting with her I am thinking I am like old man and she is like small girl because I am fighting in war and she is not even knowing what war is.”* Damit kommen wir doch auch wieder zur Konstruktion von Kindheit, welche sich natürlich in der Literatur besonders gut aufzeigen lässt. Nach Agu sind es also vor allem auch Erfahrungen und Umstände, die den Status ausmachen.

*Übersetzung: “Sie sagt mir, dass ich sprechen sprechen sprechen soll und denkt, dass mein Nicht-Sprechen zeigt, dass ich wie ein Baby bin. Wenn sie denkt, dass ich wie ein Baby bin, dann spreche ich nicht, denn Babys wissen nicht, wie man spricht. Aber immer, wenn ich mit ihr zusammensitze, denke ich, ich bin wie ein alter Mann und sie ist wie ein kleines Mädchen, weil ich kämpfe im Krieg und sie weiß nicht einmal, was Krieg ist.”

Das Recht auf Bildung jenseits des Schulhauses: Welche Art des Unterrichts für nomadisch lebende Kinder?

Maasai in Tansania (Foto: C.Grauer)

Alle Kinder haben das Recht auf Bildung. Nicht alle Kinder können aber am „klassischen“ Bildungssystem teilhaben, das herkömmlicherweise aus einer ortsgebundenen Schule (reicht von „Schule unter dem Mangobaum“ bis zum großen Gebäudekomplex mit Mensa und Turnhalle) mit Lehrerin oder Lehrer besteht.

Mobile Menschen weltweit

Menschen, die nomadisch lebenden Gesellschaften, sogenannten Pastoralisten (Viehnomaden), angehören, sind mit ihren Familien für Teile eines Jahres oder fortwährend unterwegs, in Abhängigkeit davon, wo Tiere Nahrung finden und sie temporär bleiben können. Es gibt daher schon lange Überlegungen, wie Kindern aus diesen Gruppen ermöglicht werden kann, am Bildungssystem teilzuhaben.

Viele Regierungen in Ländern des Südens blickten lange Zeit skeptisch auf Nomaden und verfolgten das Ziel, sie möglichst zur Sesshaftigkeit zu bewegen  und zum Teil ist dieses Misstrauen immer noch vorhanden. (Ähnlich skeptisch werden  bis heute übrigens auch in Europa Gruppen wie die travellers in Irland und Großbritannien behandelt).

Nomadisch lebende Gruppen lassen sich schlechter kontrollieren als Sesshafte. Zudem leben viele von ihnen in Grenzgebieten und pflegen Beziehungen zu Gruppen über Staatsgrenzen hinweg, etwa die Somali, die zwischen Somalia, Äthiopien und Kenia migrieren, die Maasai, die zwischen Kenia und Tansania unterwegs sind oder die Tuareg, unterwegs in vielen saharanischen Staaten.

Zudem fürchten viele Regierungen, so habe ich es in Tansania öfters gehört, dass Nomaden aufgrund ihrer „Rückständigkeit“ ein schlechtes Bild auf das jeweilige werfen. Daher gab es lange keine kindgerechten und kulturspezifischen Bildungsangebote für Kinder aus Nomadengruppen. Entweder fielen die Kinder durchs Raster und konnten gar nicht zur Schule gehen, oder aber es wurden Internate eingerichtet, in denen die Kinder weit weg von ihren Familien lebten und Dinge lernten, die sie vollkommen vom Lebensstil ihrer Eltern entfremdeten.

Die Internatslösung: Funktioniert nur mit viel Geld und relevanten Inhalten

Nicht nur in afrikanischen, auch in asiatischen Ländern gibt es viele nomadisch lebende Gruppen. Die Mongolei etwa hat eine lange nomadische Tradition und hier bestand bis 1990 ein funktionierendes Internatssystem für Kinder aus Nomadenfamilien (Steiner-Khamisi und Stolpe 2005). Dieses war aufgrund mehrerer Faktoren erfolgreich und wurde daher von Nomadenfamilien akzeptiert:

  • Es konnte an eine mehrere Jahrhunderte alte Tradition buddhistischer klösterlicher Erziehung anknüpfen.
  • Es stellte Kinder und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt (Geschwister- und Nachbarskinder teilten sich Zimmer).
  • Es war auf die nomadische Lebensweise abgestimmt; das Schuljahr richtete sich nach der jeweiligen Saison mit flexiblen Ferienzeiten und die Lehrpläne enthielten praxisbezogene Inhalte, die auch für das nomadische Leben relevant waren.
  • Der mongolische Staat war bereit, das dafür notwendige (viele) Geld zu investieren.

In der postsowjetischen Ära brach das System zusammen. Heute, wo es an Investitionen fehlt, besuchen nur noch die Kinder sehr armer Familien diese Internate; Kinder wohlhabenderer Familien leben mit einem Familienmitglied während des Schuljahres in einem größeren Ort und besuchen dort die Schule. 

In vielen afrikanischen Ländern gibt es generell zu wenig Investitionen in die Bildungssysteme; Kinder, die Internate besuchen, müssen für Essen, Unterkunft und Reisekosten bezahlen, was sich ihre Familien oft nicht leisten können (Osman 2009).

Mobile Schulen

Der Ansatz der „mobilen Schulen“ wird in verschiedenen Ländern schon lange erprobt. Die Idee dahinter ist, dass Lehrkraft und Schule den nomadisch lebenden Kindern während ihrer saisonalen Migration folgen. Unterricht findet dann in Zelten, einfachen Strohhütten oder im Freien statt, hier ein Beispiel aus Kenia.

Nicht immer ist dieser Ansatz erfolgreich, etwa dann, wenn Nomadenfamilien sich weit voneinander entfernt aufhalten, anstatt in größeren Gruppen zu leben, sodass Kinder zu weite Wege zurücklegen müssten um regelmäßig zum Unterricht kommen zu können. Auch verlangt der Ansatz eine hohe Flexibilität von Lehrer_innen. Schließlich ist es für Behörden schwierig, die mobilen Schulen zu unterstützen und zu überwachen und somit ihre Qualität zu gewährleisten.

Alternative Ansätze: Koranschulen, Fernunterricht, Alternative Grundbildung 

In den letzten Jahren sind einige neuere Ansätze entstanden, die nomadisch lebenden Kindern ermöglichen sollen, zumindest einen ersten Schulabschluss zu erlangen und, wenn möglich, ihre formale Bildung auch weiter fortzusetzen.

Koranschulen: In Somaliland wird seit einigen Jahren das Integrated Quranic Schools Project in Somalia (IQSP) durchgeführt. Fast alle Kinder muslimischer Somali besuchen eine Koranschule, deren Dichte wesentlich höher ist als die staatlicher Grundschulen. Daher wurde der Ansatz entwickelt, dass Koranlehrer zu Grundschullehrern weitergebildet werden und der formale Grundschullehrplan in den Koranunterricht integriert wird.

Die Projektdokumentation spricht von ersten Erfolgen, Kritiker betonen jedoch, dass religiöse und staatliche Bildung zwei verschiedene Dinge sind. Insbesondere könnte die Motivation der Eltern, ihre Kinder in die Koranschule zu schicken, in erster Linie spirituelle Gründe haben, wohingegen die formale Bildung eher funktionale Motivation habe (Krätli 2001: 31).

Fernunterricht: In Australien schon lange etabliert, ist der Fernunterricht in ressourcenarmen Ländern schwieriger zu organisieren.  Oft fehlt es an der notwendigen Technik inklusive des notwendigen Stroms. Radio ist mittlerweile jedoch in weiten Teilen Afrikas das am weitest verbreitete Kommunikationsmittel und es gibt zahlreiche Ansätze, es auch für Bildungsprogramme zu nutzen.

Ein Beispiel ist das Somali Interactive Radio Reconstruction Program (SIRIP), das mit bestehenden Strukturen wie Koranschulen kooperiert, aber auch neue Bildungszentren einrichtet, in denen sich Lernende treffen und mit Lehrpersonal austauschen können. Neben Grundlagen in Lesen, Schreiben und Rechnen lernen Kinder auch Konfliktvermeidungs- und Mediationsstrategien und es werden Programme zur Lehrer_innenfortbildung gesendet.

Alternative Grundbildung: Dieser Ansatz wurde z.B. im Programm Alternative Basic Education for Karamoja (ABEK) ausführlich dokumentiert. Es handelt sich um einen kulturell sensiblen und flexiblen Ansatz, der die Lebensrealität der Nomadisch lebenden Familien berücksichtigt, etwa indem

  • Unterricht zu Zeiten abgehalten wird, an denen keine Arbeit mit den Herden notwendig ist (am späten Vormittag oder nach Einbruch der Dunkelheit);
  • Eltern jederzeit am Unterricht der Kinder teilnehmen können;
  • Gemeinden selbst bestimmen können, wer sich als Lehrer_in ausbilden lassen und dann unterrichten soll.

Nach einigen Jahren in einer solchen ABEK-Schule ist es für die Kinder möglich, zu einer formellen Grund- oder weiterführenden Schule zu wechseln. Auch hier gibt es Schwierigkeiten, etwa, wenn einzelne Familien oder Gruppen migrieren und Kinder dann nicht mehr regelmäßig die nächste „Schule“ erreichen können. Auch sind die Lehrer_innen zwar mit den lokalen Gegebenheiten vertraut und oft Mitglieder der betreffenden Gruppen, aber meist gering qualifiziert. Viele von ihnen werden nach einiger Praxiserfahrung von besser zahlenden NGOs abgeworben (Dennis und Fentiman 2007: 52).

Fazit: Welche Schule ist die beste?

Vermutlich wird es noch lange dauern, bis wirklich alle Kinder weltweit ihr Recht auf Bildung wahrnehmen können und das in den Millenniumsentwicklungszielen formulierte Recht auf Primarschulbildung für alle (Ziel 2) wirklich umgesetzt worden ist.

Bei weltweit geschätzten 200 Millionen nomadisch lebender Familien alleine in Afrika (Dyer 2010: 63) ist es aber wichtig, nach kulturell sensiblen und praktikablen Ansätzen zu suchen, wie man allen Kindern den Zugang zu Bildung ermöglichen kann. Das sollte möglichst nicht dadurch geschehen, indem hier und da geflickt und hinzugefügt wird, sondern durch eine umfassende Reform von Bildungssystemen, die flexibler werden müssen, um auf die Anforderungen verschiedener Gruppen (auch anderer Bevölkerungsminderheiten und weiterer marginalisierter Gruppen) reagieren zu können.

Quellen

Dennis, Caroline and Fentiman, Alicia 2007. Alternative Basic Education in African Countries Emerging from Conflict; Issues of Policy, Co-ordination and Access. DFID Educational Papers. London: DFID. 15 July 2012 (PDF)

Dyer, Caroline 2010. Including pastoralists in Education for All. Commonwealth Education Partnerships 2010. 16 July 2012 (PDF)

Krätli, Saverio 2001b. Education Provision to Nomadic Pastoralists. A Literature Review. IDS Working Paper 126. Brighton: IDS. 15 July 2012 (PDF)

Osman, Amina 2009. Case Study: Challenges in policy and practice: Pastoralists and Nomadic Peoples. In: State oft he World’s Minorities and Indigenous Peoples 2009. . London, UK: Minority Rights Group International. 15 July 2012 (PDF)

Steiner-Khamisi, Gita and Ines Stolpe 2005. Non-traveling ‘Best Practices’ for a Traveling Population: the case of nomadic education in Mongolia. European Education Research Journal 4(1): 22-35.

Abseits der Schlagzeilen: „Afrikas leise Revolutionen“

Foto: C. Grauer

Auch an dieser Stelle ist des Öfteren Kritik daran zu lesen, dass die internationale (lies Westliche) Berichterstattung über Afrika und afrikanische Länder mit Vorliebe auf Krisen, Kriege und Katastrophen stürzt.

In einem Interview hat der ugandische Journalist Charles Onyango-Obbo nun kürzlich einige interessante Beschreibungen aktueller gesellschaftlichen Entwicklungen in Afrika geliefert, jenseits der üblichen Acht-Uhr-Nachrichtenmeldungen. (Onyango-Obbo ist Executive Editor bei der Nation Media Verlagsgruppe in Nairobi, politischer Kommentator, Blogger und als @cobbo3 bei Twitter unterwegs).

Für Leser_Innen, die nicht den gesamten englischen Text lesen möchten, habe ich im Folgenden einige Kernaussagen zusammengefasst.

Eine neue Definition von Bürgerschaft („citizenship“): Viele Bürger_Innen afrikanischer Ländern haben das Bedürfnis nach Frieden und bescheidenem Wohlstand. Auch wenn vielerorts Korruption und Wahlbetrug endemisch sind, scheinen sich viele Menschen damit zu arrangieren, da die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte in Bezug auf Frieden und wirtschaftlicher Entwicklung als so positiv empfunden werden, dass sie anderes aufwiegen. Verglichen mit ihrem Leben vor 10 oder 20 Jahren spüren viele Menschen kleine aber merkliche Verbesserungen.

Was die Jugend bewegt: Die Länder Afrikas haben eine sehr junge Bevölkerung; vielerorts beträgt das Durchschnittsalter 18 (!) Jahre. (Zum Vergleich: Die Durchschnittsdeutsche ist 44 Jahre alt).

Obbo ist überrascht, dass laut Umfragen in mehreren Ländern die drohende Arbeitslosigkeit nicht zu den als am dringendsten wahrgenommenen Problemen der jungen Frauen und Männer gehört. Immerhin gilt dies als einer der Hauptauslöser des arabischen Frühlings. Nein, Ängste vor Überfällen durch Kriminelle oder einer Infektion mit Geschlechtskrankheiten wiegen derzeit weit stärker.

Wie überall sonst auf der Welt befinden sich junge Menschen in Afrika in einer Situation rapiden gesellschaftlichen Wandels, die das Bedürfnis nach mehr Freiheit befeuert, nach Emanzipation von Eltern, Familie und/oder Religion. Ein Zusammenkommen von mangelnden beruflichen Möglichkeiten und wachsenden Freiheiten schätzt Obbo hier als ein mögliches zukünftiges Konfliktpotenzial ein.

Durch moderne Technologien beförderte Potenziale: Selbst als extrem arm geltende Menschen können sich mittlerweile in fast jedem Land Afrikas ein Handy leisten. Laut Obbo ist weniger die Bezahlbarkeit von Telefonen sondern vielmehr der Zugang zu verlässlichen Netzverbindungen das drängendste Problem. Auch wenn immer noch viele Menschen keinen Zugang zu mobilen Technologien haben, ist der Fortschritt klar erkennbar.

Auch staatliche Aktionen gegen Kleinhänder_innen (hier die zerstörte Bude einer Handykartenverkäuferin in Mbeya, Tansania) halten das Mobilfunkgeschäft nicht auf. Foto: C.Grauer;

Durch Social Media wie Blogs, Facebook oder Twitter sowie weitere Kanäle können Menschen Zensur durch Regierungsstellen umgehen und schaffen neue Räume für Berichterstattung abseits von staatlich kontrollierten Medien oder bestimmter Agenden wie jene von Hilfsorganisationen, Kirchen, politische Parteien, etc. Vor allem Gruppen, die in der öffentlichen Wahrnehmung lange unsichtbar waren, deren Existenz gar geleugnet wurde, wie Lesben oder Schwule, können sich nun besser organisieren und die neuen Medien für das Einfordern ihrer Rechte nutzen.

Während das westliche Mainstream-Bild von Afrika immer noch weitgehend statisch ist und von Bildern armer Kinder, Kriegen und Flüchtlingen lebt, erlaubt das Interview mit Obbo einige Einblicke in die sich rapide ändernden gesellschaftlichen Realitäten.

Natürlich gibt es die erwähnten Krisen und Konflikte, aktuell etwa im Flüchtlingslager Dadaab in Kenia, oder im Sudan (Proteste gegen das Regime al-Bashir), nur zwei von den deutschen Medien kaum erwähnte. Insgesamt aber verbessert sich die Situation sehr vieler Menschen in den afrikanischen Ländern langsam aber stetig.

Ich bin keine Befürworterin der These, die mobile Revolution alleine mache alles besser, dazu gehört mehr, etwa die Menschen, die damit umgehen und ihre Gesellschaften gestalten. Social Media ist z.B. auch eine wirkungsvolles Mittel für Hetzpropaganda, die die Gewaltausbrüche nach den Wahlen in Kenia 2008 maßgeblich schürte, wie Obbo bemerkt.

Es gibt aber viele Anzeichen dafür, dass moderne Kommunikationsmittel den gegenwärtigen Aufwärtstrend mit beeinflusst haben und dies weiterhin tun. Obbo verweist etwa auf das bekannte kenianische Handy-Geldtransfersystem M-Pesa, das in kürzester Zeit mehr Menschen nutzen als jemals Zugang zu einer kenianischen Bank hatten.

http://www.safaricom.co.ke/index.php?id=251

Noch immer ist die „Netzgemeinde“ in den afrikanischen Ländern überschaubar – aber sie wächst stetig. Auch gibt es Millionen Menschen, die in ländlichen Gebieten leben, in denen es keine oder nur instabile Internetverbindungen (von verlässlicher Stromversorgung zu schweigen) gibt und deren meistgenutztes Medium das Radio ist, da sie nicht lesen oder schreiben können.

Dennoch ist viel im Gange und ähnlich wie etwa in Deutschland, werden sicher die ländlichen Gebiete nach und nach aufholen. Alleine schon, da die überwiegend junge Bevölkerung immer besser ausgebildet wird und auch in ländlichen Gebieten Zugang zu Unterhaltung und unabhängigen Nachrichten über das Internet verlangen wird.

Buchtipp: „Kinder der Straße“ über Straßenkinder in Dar es Salaam, Tansania

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=mjT11idRcSc&w=420&h=315]

Der tansanische Rapper Professor Jay beschreibt in Zali la Mentali („goldene Chance“) wie ein armer Straßenjunge auf der Straße überlebt, eine reiche, schöne Frau trifft und schließlich ein Leben im Wohlstand führt.

Kinder der Straße – Straßenkinder?

Mir ist vor Kurzen das lesenswerte Buch „Kinder der Straße. Kindheit, Kinderrechte und Kinderarbeit in Tansania“von Helmut Spitzer in die Hände gefallen. Das Buch ist 2006 erschienen, aber immer noch höchst aktuell.

Basierend auf einer Forschung in Dar es Salaam setzt sich der Autor mit der Frage auseinander, was eigentlich „Straßenkinder“ sind, warum sie auf der Straße leben und welche Maßnahmen zu ihrer Unterstützung Sinn machen. Dabei ist ihm wichtig, eine differenzierte Betrachtung der Kategorie „Straßenkind“ zu erarbeiten und die Thematik aus der Kinderrechtsperspektive zu betrachten.

Zum Konzept „Kindheit“

Wir erleben derzeit eine „Globalisierung von Kindheit“ (Spitzer 2006: 74), d.h. die westliche Vorstellung von Kindheit setzt sich weltweit immer mehr durch. Kinder gelten zunehmend als individuelle Akteure, die zu einer Kleinfamilie gehören und das Recht auf eine unbeschwerte, möglichst lang andauernde Kindheit haben.

Anders, als in auf Individuen fokussierte westlichen Gesellschaften, leben tansanische Kinder meist viel enger eingebunden in ein Kollektiv, bestehend aus Großfamilie und Gemeinde. Sozialer Wandel und weit verbreitete Armut führen jedoch vielerorts dazu, dass sich die traditionellen Strukturen ändern und teilweise auflösen.

Von westlicher Perspektive aus wird „Kindheit in den armen Ländern des Südens (…) oft als defizitär betrachtet (Spitzer 2006: 74). Als dessen krasseste Ausprägung gelten oft die „Straßenkinder“.

Was sind „Straßenkinder“?

Die öffentliche Wahrnehmung von „Straßenkindern“ ist negativ, oft werden sie als Kriminelle, Drogensüchtige und Nichtsnutze beschimpft. In Tansania werden sie u.a. als chokora bezeichnet, ein Begriff assoziiert mit „Abfall oder Müll“ (ibid.: 128).

Eine lange Zeit gängige Definition von „Straßenkindern“ unterschied zwischen  Kindern „auf der Straße“, die dort ihren überwiegenden Lebensmittelpunkt haben, (etwa arbeiten, nachts aber zu Hause schlafen) und „Kindern der Straße“. Diese haben keine Verbindungen zu ihrer Herkunftsfamilie und leben ausschließlich auf der Straße.

Allmählich ändert sich die Wahrnehmung von Straßenkindern. Der Zustand „Straßenkind“ wird inzwischen nicht mehr statisch betrachtet, sondern als eine oftmals zeitlich begrenzte Periode im Leben eines/r Kindes oder Jugendlichen wahrgenommen. Außerdem werden „Straßenkinder“ zunehmend weniger als passive Opfer sondern vielmehr als kreative Akteure wahrgenommen, die Einfluss auf alle sie betreffenden Maßnahmen haben müssen – der Kinderrechtsansatz spielt hierbei eine wichtige Rolle.

Viele „Straßenkinder“ Dar es Salaams kommen aus ländlichen Gebieten oder anderen Städten Tansanias. Die meisten nennen Armut oder Gewalterfahrungen als Gründe für ihre Flucht. Viele Kinder konnten nie oder nur kurz zur Schule gehen, oft hatten ihre Familien zu wenig Geld, um allen Kinder zu ernähren. Etwa die Hälfte der Befragten haben ein oder beide Elternteile durch AIDS oder andere Todesursachen verloren.

Die unterschiedlichen Erfahrungen von Mädchen und Jungen

Bei einer Untersuchung über „Straßenkinder“, so Spitzer, muss zwischen Jungen und Mädchen unterschieden werden, da beide unterschiedlich sozialisiert werden, was sich auch in ihren jeweiligen Rollen auf der Straße bemerkbar macht.

Mädchen und Jungen gemeinsam ist die Ausgrenzung und Gewalt, die sie seitens der Polizei erfahren, fast alle berichten von Übergriffen, Schlägen und Willkür durch Polizeibeamte und andere Erwachsene.

Tansanische Mädchen werden allerdings wesentlich strikter sozialisiert als Jungen und haben von Kindheit an eine noch schwächere Position in der gesellschaftlichen Hierarchie. Für sie gelten auch strengere moralische Maßstäbe, daher ist es für sie wesentlich schwerer, von der Straße wieder wegzukommen.

Mädchen verlassen ihre Familie häufig nachdem sie sexuelle Gewalt erfahren haben. Auf der Straße landen sie oft in der Prostitution, was aufgrund der damit verbundenen Stigmatisierung zu weiterer Ausgrenzung führt und eine Reintegration in ihre Herkunftsfamilien oft unmöglich macht. Sie sind auch dadurch in einer schwächeren Position, weil sie sich meist nicht vor ungewollten Schwangerschaften und Infektionen mit Geschlechtskrankheiten und HIV schützen können.

Jungen berichten auch von sexueller und körperlicher Gewalt, sind aber nicht im gleichen Maße dem Stigma des „Freiwilds“ ausgesetzt wie Mädchen.

Sowohl Mädchen und Jungen schließen sich meist mit anderen zusammen. Jungen organisieren sich oft in Gruppen, in denen jedem Gruppenmitglied eine Rolle zugeteilt wird – jüngere betteln, ältere verrichten Hilfsarbeiten – und am Ende des Tages werden Einnahmen und Essen geteilt. Mädchen, die als Prostituierte arbeiten, teilen sich oft zu mehreren ein (spärlich eingerichtetes) Zimmer in dem sie leben und arbeiten.

Was tun? Hilfe für Straßenkinder

Was sollte nun getan werden, um „Straßenkinder“ zu unterstützen? Der gängige Ansatz ist, sie zu „rehabilitieren“ (ibid. 163), d.h. aus dem anormalen Zustand „auf der Straße“ wieder einen normalen zu machen. Laut Spitzer birgt dies aber die Gefahr, die Erfahrungen und Fertigkeiten der Kinder abzuwerten, die ihnen das Überleben auf der Straße ermöglichen und sie als geschickte und kreative Akteure auszeichnen.

Das tansanische Staat tut fast nichts zur Unterstützung der Kinder. Anstatt die Ursachen für ihre Existenz zu beseitigen (Armut, fehlende Infrastruktur, keine Hilfsangebote) werden sie stattdessen als „Problem“ gesehen, dass aus den Straßen entfernt werden muss und gelten als „Sündenböcke für dysfunktionale soziale Entwicklungen“ (ibid 2006: 208).

Stattdessen gibt es zahllose Hilfsprojekte, von denen viele Kinder aufnehmen, ihnen Schul- und Ausbildung ermöglichen und sie in ihre Familien zu reintegrieren. Oftmals scheitern diese Projekte. Reintegration in die Herkunftsfamilien ist oft unmöglich, da die Verhältnisse bereits zu zerrüttet sind und die Kinder schon zu lange fort waren.

Vielen Kindern fällt es zudem schwer, sich nach längerer Zeit des sehr autonomen Lebens „auf der Straße“ in den formalen Schulalltag zu integrieren, weswegen sie oft erneut die Schule abbrechen. Es fehlt hier an ausgebildeten Lehrern und an Bildungsangeboten, die Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auf der Straße erreichen.

Der mama mkubwa-Ansatz

Sinnvoller als reaktiv zu handeln, d.h. Kinder von der Straße wegzuholen, ist es daher, so der Autor, präventiv zu handeln, damit Kinder gar nicht erst aus ihren Familien weglaufen.

Der vorgestellte Präventionsansatz der mama mkubwa (Swhahili für Tante, ältere Schwester der Mutter), der im Stadtteil Kigamboni von der NGO TUAMOYO durchgeführt wird, sieht dagegen vor, gefährdete Familien zu identifizieren und zu intervenieren, bevor die Kinder auf der Straße landen.

Die mama wakubwa sind selbst Mütter, durchlaufen eine kurze Schulung und kümmern sich mit Unterstützung durch Sozialarbeiter_innen um bis zu 10 Kinder aus der Nachbarschaft. Gemeinsam suchen sie nach Lösungen für bestehende Probleme und laut Spitzer hat sich dieser Ansatz bisher bewährt.

Natürlich ist das nicht ausreichend, und es bedarf weiterhin Maßnahmen, die jene Kinder erreichen, die auf der Straße leben, dort Gewalt erleben und keinen Zugang zu Bildung oder Gesundheitsdienstleistungen haben.

Solange Staat und Gesellschaft die Kinder aber als Problem betrachten und nicht das eigentliche Problem benennen, nämlich Armut, mangelhafte Bildungschancen und ein schlechtes Gesundheitssystem, solange wird sich wohl an der Situation der Mädchen und Jungen auf der Straße nichts ändern. So lange werden sie die Sündenböcke für Versäumnisse der Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft sein.

Mehr zum Thema

Themenseite „Straßenkinder“ von terre des hommes

Website zum Film „Choroka – Überleben auf der Strasse“

Website der Autorin Nasrin Siege (die u.a. das Kinderbuch „Juma – Ein Straßenkind aus Tansania“ sowie weitere empfehlenswerte Kinderbücher geschrieben hat)