Partizipative Einsichten
Ich habe kürzlich einen fünfwöchigen Online-Kurs über partizipative Methoden in Monitoring und Evaluierung (Participatory Monitoring and Evaluation, PM&E) absolviert; Anbieter war die US-NGO Village Earth zusammen mit der Colorado State University.
Der Kurs war sehr gut und hat mir Gelegenheit gegeben, Literatur zu lesen, die ich schon immer mal lesen wollte. Ganz vorne auf der Liste stand Robert Chambers‘ „Whose Reality Counts?“ („Wessen Realität gilt?“). Das Buch mit dem Untertitel „Putting the First Last“ („Die Ersten an letzte Stelle setzen“) ist bereits 1997 erschienen aber immer noch hochaktuell und sollte Standardlektüre sein für alle, die auch nur im Entferntesten etwas mit dem Bereich Entwicklung und/oder internationale Zusammenarbeit zu tun haben. (Auch für alle anderen ist es grundsätzlich interessant, durch die vielen Beispiele aus dem EZ-Kontext aber vielleicht etwas sehr fachspezifisch).
Lernen lernen – learning to learn
Robert Chambers ist ein Pionier der sog. partizipativen Ansätze in der EZ, etwa durch die von ihm maßgeblich mitentwickelte PRA (participatory rural appraisal)-Methodik (wobei er sich sehr stark auf den Pädagogen Paulo Freire bezieht). Eine grundlegende Annahme dieses Ansatzes ist, dass „die Armen“ die wahren Entwicklungsexpert_innen sind, denn sie kennen ja ihre Lebensbedingungen am besten.
Immer wieder wird diskutiert, warum EZ trotz vieler Milliarden und Jahrzehnte andauernden Aktivitäten so wenig Wirkung zeigt und warum so vieles, was gut gemeint war, bei der Umsetzung dann schief geht. Ein Kernproblem liegt nach Chambers darin begründet, dass viele Projekte und Programme von Menschen geplant werden, die weit entfernt von den Orten des Geschehens sitzen und nicht immer über Erfahrung „im Feld“ verfügen. Ihr durch Ausbildung und Berufstätigkeit erworbener Expert_innenstatus erhebt sie zudem über die „Armen“, und bewirkt, dass letztere nicht gehört werden und stattdessen Annahmen über deren vermeintlichen Bedürfnisse getroffen werden.
Expert_innen, die von außen kommen und das Leben vor Ort nur für einen begrenzten Zeitraum miterleben, sollten sich stattdessen, so argumentiert Chambers, stark zurücknehmen . Statt Prozesse anzuleiten und zu steuern sollten sie als Moderator_innen (facilitators) wirken und sich dabei selbst als Lernende begreifen. Lernen lernen (learning to learn) nennt Chambers diesen Prozess, sich als Expert_in auf eine neue Arbeitsweise, die die Wahrnehmung und Arbeitsweise der Menschen vor Ort in den Mittelpunkt stellt, einzulassen.
Wie uns Macht und Status beeinflussen: Die Dominanz der Uppers gegenüber der Lowers
Chambers stellt dar, wie jede_r von uns ihre eigene Realität konstruiert und wie dies mit dem jeweiligen Status als Upper oder Lower zusammen hängt. Uppers bezeichnet Menschen, die in einem bestimmten Kontext dominant sind (etwa Lehrer_innen vs. Schüler_innen oder Expert_innen vs. Laien); Lowers sind in einem bestimmten Kontext Uppers untergeordnet. Je nach Kontext kann der Status wechseln; eine Lehrerin könnte z.B. in einer Runde mit Schulleiter_innen als Lower agieren, vor ihrer Klasse aber ist sie i.d.R. ein Upper.
Jede_r von uns kennt das aus den vielfältigen sozialen Beziehungen, die uns im Lauf der Jahre begegnen. Im Lauf der Zeit werden wir in bestimmten Bereichen immer mehr vom „Lower“ zum „Upper“, etwa von der Schülerin zur Studentin und zur arbeitenden Expertin.
In der EZ, so Chambers, sind die Dominanzbeziehungen meist sehr einseitig; westliche Expert_innen treten i.d.R. als Uppers gegenüber vermeintlich ignoranten und unwissenden „Armen“, den Lowers auf. Expert_innen sprechen den „Armen“ Wissen ab, denn aufgrund der von ihnen im Lauf ihrer Bildungs- und Arbeitskarriere erworbenen Erfahrung konstruieren sie ihre Realität als Expert_innen, die sich durch Fachwissen von den „Nichtwissenden“ unterscheiden.
Standardantworten statt lokal angepasster Strategien
Das führt dann immer wieder dazu, dass Expert_innen sich untereinander zitieren, und Modelle am Schreibtisch entwerfen, anstatt vermeintlich wasserdichte Fakten zu hinterfragen und sie vor Ort und in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung zu verifizieren. Zum Beispiel hält sich unter Expert_innen die Annahme, dass Bäuer_innen Saatgut nach der Höhe des zu erwartenden Ertrags auswählen, weswegen solche Varianten im Rahmen landwirtschaftlicher Programme gezüchtet und verteilt wurden. Studien in Ruanda zeigten jedoch, dass ruandische Bäuer_innen Saatgut anhand 15 verschiedene Kriterien bewerteten, wovon die Höhe des Ertrags nur eine darstellte.
Entsprechend dem Untertitel seines Buchs ruft Chambers die „Ersten“ (Expertinnen, bzw. Uppers) dazu auf, sich selbst an die letzte Stelle zu setzen, um den Lowers, den „Armen“ Raum zu geben, damit sieProzesse der Planung und Wissensproduktion selbst steuern und durchzuführen können.
Das klingt ziemlich theoretisch, soll aber nur den Denkansatz, der der partizipativen Arbeit zugrunde liegt, kurz anreißen. Die eigentliche partizipative Arbeit ist höchst praktisch ausgerichtet und nutzt eine Vielzahl interaktiver Methoden und Techniken, vorzugsweise solche, die auch von Menschen die kaum oder gar nicht lesen und schreiben können angewandt werden können.
Spannender, als das nachzulesen, ist es, sich die partizipative Arbeit in der Praxis anzusehen, etwa im oben verlinkten Video, einem Ausschnitt aus einem längeren Oxfam-Film über die in Uganda, Sudan, Indien und Pakistan entwickelte Gender Action Learning System (GALS) Methode.
Noch zwei Absätze zur „Partizipation“
Partizipation im Sinne von Chambers geht dabei über das hinaus, was in vielen Programmen und Projekten der EZ unter Partizipation firmiert. Partizipation ist eines jener schwammigen Konzepte der EZ, die in den vergangenen Jahren stets prominenter werden, ohne dass es aber eine wirkliche allgemein gültige Definition gäbe. Partizipation erschöpft sich allzu oft darin, dass einmal eine kurze Umfrage unter Dorfbewohner_innen gemacht oder einige Fokusgruppendiskussionen abgehalten wurden oder aber einige wenige Vertreter_innen von lokalen Organisationen zu Treffen geladen werden. Die Kontrolle von Prozessen bleibt dabei ausschließlich in den Händen von Experti_innen.
Das heißt aber nicht, dass die von Chambers und seinen Vorgänger_innen inspirierten partizipativen Ansätze ein Allheilmittel sind. Auch wäre es unrealistisch zu glauben, Organisationen könnten diese ohne jegliche Probleme einfach umsetzen, dazu sind die Strukturen innerhalb derer wir uns bewegen, auch zu komplex. Ich finde allerdings den dahinter stehenden Denkansatz und insbesondere das methodische Vorgehen, dass sich von den westlich geprägten Ansätzen, die überwiegend schriftbasiert und tabellarisch vorgehen, absetzt, sehr spannend und eine wichtige Ergänzung, auch im Hinblick auf die Reflexion der eigenen Arbeit und Wahrnehmung.
Und zum Schluss noch ein Video über einen gesamten PRA_Prozess in Indien; etwas älter, bietet aber einen sehr guten Einstieg in die Thematik (leider nur auf Englisch verfügbar).
[youtube http://www.youtube.com/watch?v=66GcJ1VbSm0&w=420&h=315]