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Der schwierige Weg zur Aussöhnung: Gacaca-Gerichte in Ruanda

In diesem Text geht es um Ethnizitätskonflikte und ihre Folgen in Ruanda. Die Thematik kann nicht auf die Formel „Hutu gegen Tutsi“ heruntergebrochen werden, ohne den zugehörigen komplexen historischen Kontext mitzudenken. Die deutsche Wikipedia bietet dazu eine gute Übersicht mit einer langen Liste weiterführender Literatur.

Am vergangenen Montag, von deutschsprachigen Medien quasi unbemerkt, beging Ruanda mit einem Festakt das offizielle Ende der Gacaca-Verfahren.

Fast eine Million Menschen starben während des Völkermordes in Ruanda im Jahr 1995, mindestens drei Viertel der zuvor in Ruanda lebenden Tutsi-Bevölkerung wurden ermordet. Bald nachdem die (Tutsi-)Rebellenarmee RPF unter dem heutigen Präsidenten Kagame den Bürgerkrieg beendet hatte (nicht ohne selbst Kriegsverbrechen zu begehen), saßen über 130.000 Häftlinge in ruandischen Gefängnissen (ausgelegt mit einer Kapazität von 12.000). Die bestehenden Gerichte wären mit der Anzahl an Verfahren niemals in überschaubarer Zeit fertig geworden, daher entwickelte die Regierung auf Grundlage eines traditionellen Verfahrens der Verhandlung auf Gemeindeebene die Gacaca-Justiz.

Was ist Gacaca?

„Wir hatten drei Möglichkeiten: Die erste war der gefährliche Weg der Rache, die zweite eine allgemeine Amnestie. Beides hätte zu mehr Anarchie und Zerstörung geführt. Wir haben einen dritten und schwierigeren Weg gewählt, nämlich, entschieden für die Wiederherstellung von Einheit und Integrität unserer Nation einzutreten.“ Mit diesen Worten beschreibt Paul Kagame, Präsident Ruandas, die Entscheidung, die Genozid-Verbrechen mithilfe eines neuen Modells der Gerichtsbarkeit aufzuarbeiten.

Der Kinyarwanda-Begriff Gacaca bedeutet „Rasen“ oder „Wiese“ (Hankel 2010: 43). In vorkolonialer Zeit wurden bei öffentlichen Versammlungen „Verstöße gegen die Gemeinschaftsordnung“ (ibid.) verhandelt, nicht mit dem Ziel der Strafe, sondern in der Absicht, sozialen Frieden wiederherzustellen.

Im post-Genozid Ruanda wurde auf der Grundlage dieser gemeindebasierten öffentlichen Verhandlungen die moderne Gacaca-Justiz eingerichtet. Seit 2002 wurden in allen 10.000 Zellen (kleinste Verwaltungseinheit) und den übergeordneten Sektoren des Landes Gacaca- Gerichte eingesetzt, jedes besetzt mit von der lokalen Bevölkerung gewählten 7 LaienrichterInnen, in der Mehrheit Hutu (Clark 2012: 4).

Ziel der Gacaca-Justiz war „alle des Völkermords Verdächtigen strafrechtlich zu verfolgen, unabhängig von sozialer Stellung oder ihrem Alter und gleichzeitig Wiederaufbau und Versöhnung der ruandischen Gesellschaft (zu) dienen“ (Clark 2012: 3). Ausgebildete RichterInnen und JuristInnen durften dabei keine offizielle Rolle übernehmen. [1]

Vor den Gacaca-Gerichten wurden unter Anwesenheit aller interessierten Gemeindemitglieder Verbrechen, die während des Völkermords begangen wurden, verhandelt. Dabei konnten sich TäterInnen selbst bezichtigen oder aber wurden bezichtigt. Zeuginnen konnten anschließend Stellung nehmen, bevor das RichterInnengremium zu einer Entscheidung über das Strafmaß gelangte, das von gemeinnütziger Arbeit bis zu 30 Jahren Haft umfassen konnte. 65% der fast 2 Millionen Angeklagten wurden zu Strafen verurteilt.

Fehlurteile, keine Aussöhnung: kritische Betrachtung von Gacaca

Die Bewertungen der Gacaca-Tribunale gehen weit auseinander. Menschenrechtsorganisationen haben wiederholt beklagt, dass die Gacaca-Justiz nicht internationalen Rechtsstandards entspricht und auch internationalen Rechtskonventionen wiederspricht, die Ruanda unterzeichnet hat.

Human Rights Watch etwa weist darauf hin, dass es gravierende Fehlurteile gab, vielerorts keine fairen Verfahren garantiert werden konnten und sich viele Menschen nicht trauten, in der Öffentlichkeit auszusagen, auch wenn sie z.B. die Unschuld von Angeklagten hätten bezeugen können. Viele Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren hatten, erlebten den fehlenden Schutz ihrer Privatsphäre als gravierend.

Der deutsche Rechtswissenschaftler Gerd Hankel sieht die Gacaca-Justiz ebenfalls kritisch (siehe z.B. Hankl 2010 oder ein Interview aus 2004): Die lange Dauer der Prozesse von nun zehn Jahren führte zu Ermüdung vieler Menschen, die irgendwann nicht mehr über das Erlebte reden und hören wollten. Auch die schiere Komplexität der Materie, so Hankel, macht es unmöglich, zu einer vollständigen Aussöhnung zu kommen: „Es gab 1994 große Fluchtbewegungen, Mörderbanden zogen durch das Land. Wie will man heute in jedem Einzelfall wissen, wer damals wen, wann, unter welchen Umständen umgebracht hat?“

45.000 Gacaca-RichterInnen, so Hankel, mussten aufgrund eigener Verstrickungen in den Völkermord ausgetauscht werden und besonders schwer wiegt die Tatsache, dass zwar der Völkermord der Hutu an den Tutsi, nicht aber die Verbrechen der RPF während des Bürgerkrieges mit schätzungsweise 300.000 Toten (Hankel 2010: 46).

Das Ziel der Aussöhnung betrachtet Hankel als gescheitert, auch, weil nach seiner Einschätzung gerade auf dem Land weiterhin die ethnische Zuschreibung von Hutu und Tutsi weiter besteht, anders als die offizielle staatliche Vorgabe, nach der es nur noch RuanderInnen gibt.

Gacaca: Trotz aller Schwierigkeiten ein Erfolg

Eine andere Position nimmt der britische Politikwissenschaftler Phil Clark ein (Clark 2012 und ein aktuelles Interview). Auch er erkennt die erwähnten Schwierigkeiten und Probleme an, ist aber der Meinung, dass die positiven Auswirkungen der Gacaca-Justiz überwiegen.

Für Clark ist es vor allem von Bedeutung, dass Ruanda kaum eine andere Möglichkeit hatte, mit den Folgen des Völkermords von solch ungeheuerlichen Ausmaß fertigzuwerden. Insbesondere die wichtige Rolle der Menschen auf Gemeindeebene wertet Clark als großen Pluspunkt, der, von vielen internationalen BeobachterInnen nicht ausreichend gewürdigt würde.

Clark bestreitet nicht, dass es Fehlurteile und viele Schwierigkeiten innerhalb der Verfahren gab, ist aber der Ansicht, dass die ruandische Gesellschaft auf drei Ebenen profitiert hat:

  • Gerechtigkeit: Anders als von vielen befürchtet, wurde die Gacaca-Justiz nicht zur „Mob“-Justiz; ein Viertel der Fälle endeten mit Freisprüchen. Angeklagte entstammten allen sozialen Schichten und wurden gleich behandelt, ohne, dass ihr Status Einfluss auf die Verhandlung hatte.
  • Wahrheit und Offenheit: Viele Menschen, Opfer wie TäterInnen, konnten in der Öffentlichkeit ihre persönliche Geschichte erzählen, wodurch der Völkermord dokumentiert wurde. Clark wiederspricht der Ansicht, wonach sich Menschen nicht getraut hätten, zu Unrecht Angeklagte zu verteidigen, denn „in einem System wie Gacaca findet jeder ein Beispiel für alles.“
  • Demokratische Partizipation: Die Gacaca-Tribunale waren Orte, an denen offen gesprochen werden konnte, und wurden somit zu Arenen der politischen Auseinandersetzung. 40% der Richterinnen waren Frauen, und Frauen, so Clark, gehörten zu den aktivsten Teilnehmerinnen. Ihnen eröffneten die Gacaca-Verfahren neue Möglichkeiten der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe.

Auch Clark ist der Ansicht, dass Aussöhnung und Vergebung innerhalb der rundischen Gesellschaft noch lange nicht erreicht sind, für ihn sind war die Phase der Gacaca-Justiz aber ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung, da sie vielen Menschen im ganzen Land ermöglichten, über Erlebtes zu sprechen und zu verhandeln.

Wie geht es weiter? 

Wahrscheinlich wird sich erst im Lauf der Jahre zeigen, welche Auswirkungen die Gacaca-Justiz auf die ruandische Gesellschaft hat. Was in jedem Fall anzuerkennen ist, ist die Tatsache, dass Ruanda einen eigenen Weg gefunden hat, mit einer so komplexen und unübersichtlichen Problemlage fertig zu werden.

Die Einwände bezüglich der Nichteinhaltung von Justiznormen sind ernstzunehmen, aber wie hätte eine Alternative aussehen können? Phil Clark weist darauf hin, dass einige Menschenrechtsgruppen eine Amnestie aller TäterInnen forderten, was aber angesichts des ungeheuren gesellschaftlichen Ausmaßes keine Lösung sein kann.

Wie so oft geht es hier auch um die Frage nach der Anwendbarkeit universeller Standards, die in der Theorie gefordert sein mag, aber die nicht in jedem Kontext möglich ist. Für aktuelle Konflikte, etwa im Sudan, der Demokratischen Republik Kongo oder den Staaten des „arabischen Frühlings“, könnten daraus ebenfalls Lehren gezogen werden.

 
[1] Verbrechen wurden in vier Kategorien eingeteilt. Gacaca-Gerichte behandelten Fälle der Kategorien 2-4, von schwerer Körperverletzung, Totschlag und Mord (Kat. 2) über Körperverletzung (3) hin zu Vermögensdelikten (4). Verbrechen der Kategorie 1 umfassen Planung des Völkermords, Vergewaltigung, Massenmord und sexuelle Folter und werden von nationalen Gerichten und dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) im tansanischen Arusha behandelt.

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