Alltag, Frauen
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Wessen Versagen eigentlich?

Seit Wochen beschäftigen sich die deutschsprachigen Medien, mit der indischen Studentin, die an den durch eine Massenvergewaltigung erlittenen Verletzungen gestorben ist, bzw mit einer Analyse der indischen Gesellschaft, die Verbrechen wie dieses zulässt.

Was mich seit Beginn der Berichterstattung extrem stört ist, dass fast ausschließlich mit einer unverhohlen westlichen Arroganz mit dem Finger auf Indien gezeigt wird, als könne und würde „dies“ „bei uns“ nicht passieren und als sei der Vorfall alleine durch die traditionellen und „rückständige“ indische Gesellschaft erklärbar. (Heutiges Negativbeispiel bei FAZ Online „Indiens Versagen“).

Ich bin keine Indien-Expertin und kann zu den Einflüssen von Tradition und Gesellschaft wenig sagen, außer, dass diese mit Sicherheit von Bedeutung sind – sowohl, was die Tat an sich betrifft, wie auch die in der Folge von den Protestierenden thematisierte Strafffreiheit für Vergewaltiger und andere Täter von sexualisierter Gewalt. Genauso gibt es aber auch „bei uns“ Einflüsse von Kultur und Tradition, die Einfluss auf das Vorkommen (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen haben – aber nirgendwo sind „Tradition“ oder schlimmer „Rückständigkeit“ alleine nie alleinige Faktoren, die zur Erklärung dienen können.

Berichterstattung voller postkolonialer Stereotype

In der aktuellen Berichterstattung über Indien schwingen meist abwertende Ansichten mit, die ein Bild von der „archaischen, frauenverachtenden indischen“ vs. der „aufgeklärten, modernen westlichen“ Gesellschaft zeichnen. In einem Kommentar für den Guardian analysiert die Theaterwissenschaftlerin Emer O’Toole die von neokolonialen Stereotypen gezeichnete westliche (englischsprachige) Berichterstattung zum Thema. Ähnliches könnte man für die deutschsprachige zusammenstellen.

Sexualisierte Gewalt? Doch nicht „bei uns“. Oder?

Viele westliche Medien berichten in einer derart abwertenden Weise über sexualisierte Gewalt in Indien, die impliziert, dass „dies“ (brutale Gewalt gegen Frauen, keine Ahndung sexualisierter Gewalt durch Polizei und Gerichte) „bei uns“ völlig anders sei. Das stört mich extrem, denn man muss nur einmal einige Beiträge anschauen, die von der 2012 gelaufenen Kampagne „ich habe nicht angezeigt“ http://ichhabnichtangezeigt.wordpress.com gesammelt wurden. Von sexualisierter Gewalt Betroffene (Frauen und Männer) berichten hier (anonym), was sie erlebt und vor allem warum sie erfahrene sexualisierte Gewalt nicht angezeigt haben. Keine entspannende Lektüre.

Die gesellschaftlichen Strukturen „bei uns“ unterscheiden sich daher gar nicht so grundlegend von jenen, die nun in Indien angeprangert werden. Auch in Deutschland ist sexualisierte Gewalt allgegenwärtig und die Ansicht, wonach Opfer selbst schuld seien („selbst schuld, wenn man einen so kurzen Rock trägt“) ist viel zu weit verbreitet. Sexualisierte Gewalt ist nicht gleich Vergewaltigung. Sie fängt dort an, wo (meist) Frauen sich dumme und anzügliche Sprüche gefallen lassen müssen, ohne dass jemand eingreift. Schlimmer noch, mit vermeintlich guten Ratschlägen wie „Ist doch nicht so schlimm“, „stell Dich nicht so an“, oder „war bestimmt nicht so gemeint“, werden die Betroffenen weiter verunsichert und werden die Taten verharmlost. Schon mal erlebt? Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ja, wette ich.

Dies drückt auch der englische Begriff „rape culture“, unzureichend übersetzt mit „Vergewaltigungskultur“, aus. Hier eine gute Einführung dazu. Noch einmal: Auch hier, in Deutschland, existiert ein gesellschaftliches Klima, in dem sexuelle Gewalt verharmlost wird und das es Betroffenen erschwert, erfahrene Gewalt anzuzeigen. Kein Grund, um mit dem medialen Finger auf Indien (oder andere Länder) zu zeigen).

Einige Zahlen zu sexueller Gewalt

Schätzungen zufolge zeigen nur 5% der Frauen in Deutschland, die eine Vergewaltigung erleben, diese an. Nur 13% der angezeigten Vergewaltigungen werden gerichtlich verurteilt.

Eine repräsentative Studie, durchgeführt im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) aus 2004 hat ergeben, dass jede siebte Frau im Lauf ihres Lebens sexualisierte Gewalt, die strafrechtlich relevant ist, erlebt. (Link zur Kurfassung hier60% aller Frauen haben bereits einmal eine Form sexueller Belästigung erlebt.

Zahlen, die für sich selbst sprechen.

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